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Anna und Tess

 

Anna, Baby in Anenzephalie

24.4.1997

Im Oktober 1996 bin ich schwanger geworden. Der erste Ultraschalluntersuch zeigte uns, dass wir Zwillinge erwarteten. Wir freuten uns so sehr, waren so glücklich, als wir sahen, wie die zwei kleinen Herzen schlugen.

Ich hatte eine problemlose Schwangerschaft, ausser der morgendlichen Übelkeit. Die Routineuntersuchungen im Krankenhaus verliefen auch immer ohne Befund, fast jedes Mal konnten wir unsere noch ungeborenen Babies auf dem Ultraschallmonitor sehen. Ihre Herztöne waren Musik in unseren Ohren. Ich realisierte, dass der Herzrhytmus der Babies verschieden war, doch dachte mir, es sei vielleicht so, weil es ein Junge und ein Mädchen waren. Zu Hause schauten wir uns die Ultraschallvideos stundenlang an, und begannen mit der Einrichtung des Babyzimmers. Mit einem stolzen Lächeln im Gesicht kauften wir alles zweimal.

In der 24. Schwangerschaftswoche musste ich zu einem Routineuntersuch, es war schon eine Weile her, seit wir unsere Zwillinge das letzte Mal gesehen hatten. Doch ich hatte ein gutes Gefühl, beide Kinder lebten, ich spürte ihre Bewegungen, vorallem jene des Babys auf der linken Seite. Sie waren manchmal so stark, dass sie mich nachts aufweckten. Es war auch schon eine Weile her, seitdem mein Mann mich das letzte Mal begleitet hatte, doch dieses Mal waren wir zu zweit...

Die Ärztin war sehr beschäftigt mit dem Ultraschall und mit Tränen in den Augen sahen wir auf das rechte Baby. Wir ahnten nicht, dass unsere Freudentränen bald zu Tränen tiefster Traurigkeit werden würden...

Als die Ärztin das linke Baby anschaute, fühlte ich fast sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich fragte sie, was sie sich gerade ansehe, und sie antwortete, sie könne den Kopf nicht gut sehen. Nach fast einer halben Stunde druckte sie ein paar Bilder aus und sagte uns: "Gehen Sie bitte nochmals ins Wartezimmer, ich rufe sie in ein paar Minuten."

Von diesem Augenblick an wusste ich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, ich machte mir grosse Sorgen und fühlte mich schlecht.

Nach einer halben Stunde des Wartens, die uns wie Stunden erschienen, kam die Ärztin und sagte uns, wir würden am nächsten Tag für weitere Aufnahmen in einem anderen Krankenhaus erwartet. Wir fragten sie, was denn los sei, ob sie etwas gesehen hätte, doch da sie sich nicht sicher war, konnte sie uns nicht viel weiterhelfen. Das Einzige was sie sagte war: "Ich hoffe, ich irre mich. Es könnte sein, dass eines Ihrer Babies eine Fehlbildung hat. Doch da ich mir nicht sicher bin möchte ich nicht, dass Sie sich jetzt Sorgen machen. Morgen werden wir mehr wissen."

Doch wir machten uns Sorgen, grosse Sorgen. Wir hatten Angst. Was war mit unserem Kind los? Was könnte es haben? Diese Nacht haben wir fast nicht geschlafen und viel zu früh standen wir am nächsten Morgen vor dem Krankenhaus.

Dann wurde der Ultraschall gemacht. Zuerst das Baby auf der rechten Seite, dann das Baby auf der linken Seite, und dann wurde alles ruhig... Ich sah nur auf die Augen des Arztes und sie sagten mir, dass etwas nicht stimmte, dass es sehr schlimm war.

Ich hatte Recht, unser Baby hatte eine Fehlbildung, war "nicht mit dem Leben vereinbar", Anenzephalie, ein Neuralrohrdefekt, es würde mit Sicherheit sterben, entweder vor oder kurz nach der Geburt.

Wir waren fassungslos, unsere Welt fiel in sich zusammen, jegliche Hoffnung verschwand. Unser Baby, das in meinem Bauch heranwuchs, würde sterben, und es gab nichts, aber auch rein gar nichts, was wir dagegen machen könnten...

Innerhalb einer Stunde standen wir wieder draussen, und ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir nur weinten, weinten, weinten, zusammen, hoffnungslos. Wir gingen nach Hause und dann kamen die Telefonanrufe. Ich konnte mit niemandem sprechen, mein Mann musste unserer Familie und Freunden weinend die schlechte Nachricht überbringen.

Meine Eltern kamen sofort zu uns und später auch ein paar Freunde. Wir konnten nur weinen und ihnen immer und immer wieder erzählen, was wir gerade erst erfahren hatten.

Diese Nacht versuchte ich etwas zu schlafen, doch ich konnte nur weinen. So viele Gedanken, so viel Schmerz. Meine ungeborenen Kinder taten mir Leid, ich tat mir Leid, mein Mann tat mir Leid. Die Kinder in meinem Bauch stiessen mich und bewegten sich unter meinem Herzen.

Am nächsten Tag rief ich den Arzt noch einmal an, wir hatten so viele Fragen. Er nahm sich Zeit sie zu beantworten und wir vereinbarten neue Termine. Doch die Wahrheit war hart, es konnte nichts gemacht werden, unser Baby würde sterben.

Beim nächsten Termin fragte ich den Arzt nach dem Geschlecht unserer Babies, wir wollten es jetzt wissen. Er sagte es seien Mädchen, zwei kleine Mädchen. Von diesem Zeitpunkt an gaben wir ihnen ihre Namen, Anna und Tess. Anna war unser krankes Baby, Tess schien gesund zu sein.

Wir lernten viel über Anenzephalus, vieles, was wir vorher noch nicht wussten. Doch wir hatten immer noch Angst vor der Zukunft unserer zwei Kinder. Wir erlebten Traurigkeit, tiefe Trauer, Hilflosigkeit aber auch Freude und Hoffnung.

Ich versuchte mir und meinen Töchtern gegenüber ehrlich zu sein. Ich sprach mit ihnen, versuchte mich und sie auf die zukünftigen Ereignisse vorzubereiten. Ich sagte Anna, dass ich sehr glücklich war über sie, aber sehr traurig, dass sie nicht bei uns bleiben durfte. Ich sagte meinen Töchtern, dass sie ihr Zusammensein geniessen sollten, da sie nach der Geburt Abschied nehmen müssten. Vielleicht sogar vorher... Ich sagte Tess, sie sollte stark und tapfer sein, dass es auch für sie schwierig sein würde. Ich versuchte meinen ungeborenen Kindern die Farben zu lehren, Klänge und Musik durch meine eigenen Sinne, solange Anna noch lebte. Ich musste das tun, da ich sicher war, dass Anna nie in diese Welt treten würde, in der sie hätte leben sollen...

In der 37. Schwangerschaftswoche sollte ich einen Kaiserschnitt haben. Ich bat selber darum, weil Anna höchstwahrscheinlich zuerst geboren werden würde. Da sie so klein und schwach war, fürchtete ich auch um Tess' Leben.

Die Wochen davor waren sehr schwierig. Wochen bitterer Traurigkeit, Wochen der Hoffnung und der Freude, aber auch Wochen des Alleinseins. Es wurde immer klarer, dass die meisten unserer Mitmenschen nicht mit unserem Schmerz umgehen konnten. Wir verstanden es, kamen wir ja selbst fast nicht damit zurecht.

Ich erinnere mich noch an den Tag nach der Diagnose, als das Babygeschäft anrief, um uns mitzuteilen, dass die Betten verfügbar waren. Ich sagte der Frau, dass wir eine Bestellung rückgängig machen müssten, doch die Frau antwortete mir: "Gnädige Frau, das ist nicht möglich, sie haben zwei Betten bestellt!" Ich konnte ihr die Situation nicht erklären, ich war so fassungslos. Weinend erzählte ich meinem Mann was geschehen war, und er rief zurück und erklärte alles.

Wenn ich durch unser Dorf lief, sah ich Leute, die erschraken, niemand fragte mich, wie es mir ging. Doch andererseits sprachen mich Unbekannte an, legten lächelnd ihre Hand auf meinen Bauch, sie wussten ja nichts.

Das Babyzimmer, das für Zwillinge geplant war, wurde zu einem Einzelzimmer. Dies war sehr schwierig für mich, da ja beide Kinder unter meinem Herzen heranwuchsen.

Jede Nacht dachte ich stundenlang über die Zukunft nach, über die Geburtsanzeige, das Begräbnis.

Zum Glück hatten wir eine Sozialarbeiterin zu Seiten. Sie half mir sehr, mit ihr konnte ich über meine Hoffnungen und Aengste reden, ich konnte lachen und weinen. Sie und unser Arzt unterstützen uns wirklich, wofür ich sehr dankbar bin.

Wir sprachen mit unserem Arzt auch über die Möglichkeit einer Organtransplantation. Wenn Anna schon nicht leben würde, so könnte sie vielleicht einem anderen kranken Baby das Leben retten. So würde Annas Leben noch mehr Sinn haben, als sowieso. Der Arzt nahm sich unser Anliegen sehr zu Herzen, doch zum Schluss wurde uns gesagt, dass Anna als Organspenderin nicht zugelassen sei. Die Diskussionen über Kinder mit Anenzephalie als Organspender laufen immer noch, doch Anna wurde zudem auch noch zu früh geboren.

In der 32. Schwangerschaftswoche musste ich plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert werden. Während eines Arzttermins begannen die Wehen. Ich bekam sofortige Bettruhe verordnet, musste ein Medikament zur Stoppung der Wehen einnehmen (Prepar) und bekam ein anderes eingespritzt um die Lungenreife der Babies zu beschleunigen. 48 Stunden lang lag ich so im Bett, mit Schüttelfrost und Herzrasen wegen des Prepars. Doch nach dieser Zeit begannen die Wehen von neuem. Als der Arzt zur Kontrolle kam, war der Muttermund bereits 9 cm weit geöffnet. In aller Eile wurde ich in den Operationssaal gebracht, die Stunde der Wahrheit war gekommen. Wir waren in der Nacht des 24. April 1997. Während ich die Betäubungsmittel bekam sprach ich meinen Kindern Mut zu, dass sie stark und tapfer sein sollen. Ich war völlig hilflos, konnte nur noch warten, bis alles vorüber sein würde. Ich sagte Anna auf Wiedersehen, da ich nicht wusste ob sie die Geburt überleben würde. Es war eine sehr schwierige Situation...

Es war ganz besonders, dass unser Arzt gerade an diesem Abend im Krankenhaus Dienst hatte, ich war sehr dankbar für diese Begebenheit. Wir kannten einander, hatten den Schmerz und die Trauer um Anna gemeinsam getragen, und jetzt würden wir auch bei ihrer Geburt zusammen sein... Es war halb fünf Uhr morgens, Anna und Tess kamen um 4:43 und 4:44 Uhr zur Welt.

Um sechs Uhr wachte ich etwas auf, mein Mann sass neben mir und erzählte mir, wir hätten zwei wunderbare Töchter bekommen. Anna lebte immer noch und Tess ging es gut. Ich fühlte mich mies, leer, als ob man mir meine Babies geraubt hätte bevor ich sie sehen durfte.

Anna, unsere Erstgeborene, wog 1250 g, Tess, unsere zweite Tochter wog 1850 g.

Wegen der Betäubungsmittel schlief ich wieder ein, erschöpft und voller Angst vor dem, was kommen würde...

Um halb acht wachte ich wieder auf und man zeigte mir ein Polaroidbild unserer Töchter, sie waren wirklich wunderschön. Anfangs hatte ich Angst Anna anzuschauen, da ich nicht wusste, was ich zu erwarten hätte, doch auch sie war wunderschön.

Um acht Uhr kam ein Arzt herein und teilte uns mit, dass Anna friedlich entschlafen war. Sie hatte nur vier Stunden lang gelebt, musste aber nicht leiden. Mein Mann war die ganze Zeit bei ihr, hielt sie in seinen Armen, während ich mich von dem Kaiserschnitt erholte.

Zu meinem grössten Kummer habe ich Anna nicht mehr lebend gesehen. Ich musste ihr auf Wiedersehen sagen, nachdem sie schon gestorben war.

Ich werde meine kleine Tochter Anna nie vergessen, sie sah so winzig aus, so friedlich, so süss, so wunderschön. Es war eine Zeit reiner Freude und reiner Traurigkeit. Tränen der Freude liefen neben Tränen tiefster Trauer.

Nach fünf Tagen begruben mein Mann und ich Anna. Wir wollten dies zusammen tun. Ich hatte selber die Blumenarrangements gemacht, schöne Rosen für unsere kleine Rosenknospe. Annas Beerdigung war einfach und schlicht, ruhig und traurig, doch es war mir wohl. Mein Mann und ich waren gemeinsam durch dies gegangen, und gemeinsam wollten wir unserer Tochter unseren letzten Respekt darbringen.

Nie zuvor hatte ich einen so kleinen Sarg gesehen, er brach mein Herz. Wir warfen Rosen und Annas Teddybär auf den Sarg und standen dort, und während die Wolken mit uns weinten, sagten wir Anna unser letztes auf Wiedersehen.

Nach der Beerdigung gingen wir sofort zurück ins Krankenhaus zu Tess. Wir nahmen sie ganz nahe zu uns, um mit ihr unsere Trauer zu teilen. Fünf Tage später durfte ich nach Hause, während Tess noch einige Zeit bleiben musste. Sie war noch so klein und benötigte Pflege, es ging ihr aber gut und wir wussten sie in guten Händen...

Anna wird immer ein Teil unseres Lebens sein, sie wird immer mit uns in unseren Herzen sein.

Tess ist nun fünf Jahre alt, ein liebenswertes Kind mit einem Herz aus Gold.

Und ich, ich bin stolz, die Mutter meiner beiden Töchter zu sein. Ich glaube dass wir uns eines Tages wieder sehen werden.

Wir sprechen oft über Anna, vorallem seit Tess ihre Zwillingsschwester immer öfter vermisst. Sie stellt mir Fragen über sie, versteht, dass sie bei Gott im Himmel ist. Doch manchmal ist es schwierig, eine Antwort auf ihre Fragen zu finden.

Hin und wieder macht sie auch lustige Bemerkungen, die mich zum Lachen bringen :
"Mami, macht Gott im Himmel Pommes für Anna?"
"Mami, wenn du in den Himmel kommst, muss Gott nicht mehr für Anna kochen."

Als Tess' Meerschweinchen gestorben war, meinte sie, nachdem sie eine Weile geweint hatte: "Ich sollte nicht traurig sein, denn jetzt hat Anna im Himmel auch ein Meerschweinchen."

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 20.02.2019