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Sarah und Philipp

 

Sarah, baby in Anenzephalie

Es begann mit dem – so dachten wir – „simplen“ Wunsch nach einem Kind. Wir waren schon einige Zeit verheiratet und nun hatten wir uns definitiv für ein Kind entschieden (wir waren vorher ja nicht dagegen). Doch die ersehnte Schwangerschaft wollte sich nicht einstellen. Bei der sowieso fällig gewordenen Kontrolle bei meinem Gynäkologen Dr.S. erwähnte ich dies und daraufhin begannen erst einmal aufwendige Untersuchungen. Schließlich wurde klar, dass es nicht so einfach werden würde. Ich erhielt die Diagnose, dass eine Schwangerschaft zwar prinzipiell möglich wäre, ohne Therapie vielleicht schon nächsten Monat, oder aber erst in ein paar Jahren oder auch gar nicht. Mein Hormonhaushalt schien total aus der Bahn geraten zu sein. Das war für mich schon ein erster Schock „Werde ich überhaupt selbst Kinder haben können?“

Die Sterilitäts– Therapien mit Hormonen begannen eher sanft und nach wenigen Monaten war es dann doch soweit: Wir erwarteten unser erstes Kind. Hurra! Natürlich wusste ich, dass die ersten zwölf Wochen auf ein großes Risiko für eine Fehlgeburt bergen, aber ich war voller Zuversicht, dass es gut gehen würde. Ich hatte so auf diese Schwangerschaft gehofft und mich gefreut, dass ich den Gedanken an eine mögliche Fehlgeburt völlig verdrängte.

Bei der zweiten Untersuchung in der 10.SSW machte Dr.S. wieder einen Ultraschall. Für gewöhnlich erklärte er mir immer, was denn gerade auf dem Bildschirm zu sehen sei. Diesesmal sagte er lange Zeit nichts, machte eine Vergrößerung nach der anderen und dann kam die Ernüchterung: „Es tut mir sehr leid, aber Ihr Kind hat keinen Herzschlag mehr.“ Unser Kind war völlig unbemerkt in meinem Bauch gestorben.

Ich fiel in ein unendlich tiefes Loch. Drei Tage später wurde dann die Ausschabung von Dr.S. im Sanatorium gemacht. Als ich den OP gebracht wurde, wollte ich schreien und den Eingriff verweigern, doch ich brachte kein Wort hervor, nur bittere Tränen. Es ging mir entsetzlich schlecht. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wofür ich denn das verdient hätte. Bei einer Visite sagte Dr.S. zu mir „Hier gibt es leider keine Gerechtigkeit!“. Ich fühlte mich gottverlassen und fiel in Depressionen.
Da gab mir der Arzt ein Buch: „Gute Hoffnung– jähes Ende“ von Hannah Lothrop. Dieses Buch hat mir sehr geholfen, denn endlich fühlte ich mich verstanden und wusste, dass ich nicht verrückt war, sondern eben auf den Tod unseres Kindes mit Trauer reagierte. Jeder um mich herum wollte mir erklären, dass es wohl besser so gewesen sei, dass das Kind wahrscheinlich unheimlich behindert gewesen wäre…. Und ich solle mir doch vorstellen, wie schlimm es wäre, ein Kind auszutragen und dann zu verlieren.

Bei diesen sogenannten „tröstenden Argumenten“ wurde ich regelrecht wütend und ich kann bis heute keinen einzigen Grund finden, warum irgendetwas Gutes am Tod seines eigenen Kindes sein soll– auch wenn es noch so klein war. Mein Mann wurde überhaupt erst gar nicht gefragt, wie es denn ihm ginge und dabei litt er genauso wie ich.

Wir hatten uns darauf verlassen, dass unser Kind in diesem Sanatorium sicher mit Würde behandelt würde. In der Annahme, dass es immer noch üblich sei, fehlgeborene Kinder in einem anderen Sarg beizulegen, baten wir um keine eigene Bestattung. Aber ich fand keine Ruhe und wollte wissen, wo unser Kind denn hingekommen sei– da erfuhr ich, dass es nur mehr zwei Objektträger mit mikroskopischen Schnitten von Salome (so hatten wir für uns unser Kind benannt) gab. Die Vorstellung, dass der Rest irgendwo mit dem medizinischen Abfall entsorgt worden war, machte mir sehr zu schaffen.

Vor allem aber gab es keinen Ort, wo ich meine Trauer hintragen konnte. Ich dachte immer, für jeden Verstorbenen, sogar für Verschollene, gibt es ein Grab, aber nicht für unser Kind. Damals gab es zwar schon ein anonymes Sammelgrab für fehlgeborene Kinder, aber erst ab einem späteren Schwangerschaftszeitpunkt. Ganz abgesehen davon wurden wir darüber gar nicht informiert und hatten so auch keinerlei Möglichkeit, um eine Bestattung zu bitten.

Nach einigen Wochen musste ich einsehen, dass ich alleine nicht in der Lage war, diesen Verlust zu verarbeiten und begab mich in psychotherapeutische Behandlung. Das hat mir sehr gut getan, weil mir endlich jemand zuhörte ohne zu bewerten, ohne das Geschehene zu bagatellisieren und weil ich das Gefühl bekam, meine Trauer sei einfach nur eine ganz normale Reaktion.

Nach dieser intensiven Trauerphase keimte der Kinderwunsch langsam wieder auf und damit begannen wieder die Therapien bei Dr.S. Doch diesmal sollte es nicht so einfach klappen. Von Monat zu Monat wurden die Medikamente mehr, die Dosis der injizierten Hormone höher und dennoch war es vergebens. Wir standen nun vor der Entscheidung, die reinen Hormonstimulationen zu verlassen, und mit einer Intrauterinen Spermieninjektion (IUI– das aufbereitete Sperma wird direkt in die Gebärmutter eingeführt) nachzuhelfen. Nach einigem Ringen sagten wir zu, und so begann am 21.04.2002 ein neuer Zyklus.

Die Hormonstimulation bei Dr. S. verlief gut und er überwies uns für die IUI an Dr. Z.– einem Spezialisten für Sterilitätsbehandlung. Laut Ultraschall stand der Sprung der drei Eibläschen kurz bevor und die IUI wurde durchgeführt. Bei der Kontrolle nach drei Tagen wurde aber festgestellt, dass der Eisprung immer noch nicht stattgefunden hatte und die IUI wurde wiederholt.

Einige Tage später fuhren wir in den Urlaub in die französische Provence. Wir waren dort schon öfter gewesen und freuten uns sehr darauf. Dort machte ich auch den Schwangerschaftstest. Er war sehr schwach – aber immerhin – positiv. Allerdings hatte ich auch leichte Blutungen bekommen – trotz der schon vorbeugend verordneten Hormone zur Unterstützung.

Wieder zuhause brachte die Kontrolle bei Dr.Z. Gewissheit: Wir erwarteten Zwillinge! Wir fühlten uns wie im siebten Himmel, doch für grenzenlose Freude war es noch zu früh. Um die Schwangerschaft aufrechterhalten zu können, musste ich wieder täglich Hormone spritzen, Medikamente einnehmen und ich war ab sofort in Frühmutterschutz und sollte nur liegen.

Die Tage vergingen entsetzlich langsam und ich hatte ständig Angst um unsere Kinder. Zu sehr waren die Erinnerungen an Salome wach. Vor jeder Untersuchung war ich schier aus dem Häuschen, vor lauter Angst, die Herzchen könnten wieder stillstehen. In der 10.SSW bekam ich dann nach der Abschlussuntersuchung bei Dr.Z. den Mutter– Kind Pass. Der errechnete Geburtstermin war der 28.01.2003. Es schien alles in Ordnung zu sein. Ich musste zwar noch weiter Medikamente einnehmen, aber laut Arzt stünden die Chancen gut ich könne die weiteren Kontrollen nun wieder bei Dr.S. machen.

Am 09.07.2002 war ich gemeinsam mit meinem Mann bei Dr.S. zum Ultraschall. Unsere beiden Zwerge lagen wie im Stockbett übereinander. Das obere Kind war ganz ruhig, das untere aber wachtelte ganz auffällig heftig mit Händen und Füssen, als wollte es uns grüßen. Als die 12.SSW vorbei war, sagte ich zu meinem Mann, dass ich mich nun langsam auf die Schwangerschaft einstellen würde und die Angst der Freude weiche. Doch diese Freude währte nur eine Woche.

Am ersten Tag der 14.SSW, es war Sonntagabend 21.07.2002, lag ich im Wohnzimmer. Plötzlich fühlte ich etwas im Unterleib und ging zur Toilette. Da sah ich, dass mir das Blut schon bei den Füssen herauslief. Panik breitete sich aus. Wir riefen Dr.S. an und er riet uns, ins Landeskrankenhaus zu fahren. Während ich ins Auto einstieg, fühlte ich etwas Dickes in mir herunterrutschen. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass es mit den Kindern vorbei sein würde.

Während wir in der Ambulanz warteten, betete ich immerzu und hoffte (in einem für mich jetzt irren Gedanken), dass wenigstens ein Kind bleiben möge. Bei der Untersuchung stellte sich dann heraus, dass das war ich gefühlt hatte, ein großer Blutklumpen gewesen war. In der Gebärmutter gab es ein großes Blutungsareal, aber als wir beim Ultraschall unsere beiden Kleinen munter strampeln sahen, war die Erleichterung riesengroß.

Aber die untersuchende Ärztin Dr.SE. schien etwas verunsichert zu sein. Immer und immer wieder sah sie hin, suchte eine andere Perspektive, sagte uns letztlich aber nichts. Ich wurde auf die Gynäkologische Sonderstation I gebracht, sofort an wehenhemmende Magnesiuminfusionen angehängt (welche ich zum Erstaunen der Ärzte nicht vertrug– ich bekam starke Migräne, Erbrechen… und wurde daher akupunktiert) und hatte strengste Bettruhe. Die Blutung war ein offensichtliches Anzeichen für eine drohende Fehlgeburt (Abortus imminens), weshalb versucht wurde, dem entgegen zu wirken. Wir ahnten nicht, dass es trotz der vergangenen Aufregung unsere letzte ruhige und relativ unbeschwerte Nacht sein würde.

Am nächsten Morgen wurde ich in den Spezialultraschall gebracht. Ich war der Annahme, es sei alles in Ordnung und dass es sich dabei eben um eine Kontrolle handelte. Dort lernte ich einen ganz besonderen Menschen kennen: Dr.A. Er machte den Ultraschall. Wie die Ärztin schon am Abend zuvor, schien auch er etwas Bestimmtes zu suchen. Aber er sagte kein Wort. Als ich ihn fragend ansah, sagte er, er wolle sich ganz sicher sein und würde dann mit mir reden.

Nach schier unendlichen 45 Minuten bangen Wartens kam jener Augenblick, der unser ganzes Leben verändern sollte: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Das ober Kind sieht gesund und in Ordnung aus. Das untere Kind aber hat ein sehr massives Problem. Es leidet an Anenzephalie. Dieses Problem ist so massiv, dass es nicht lebensfähig sein wird….“

Er redete noch einige Zeit mit mir, erklärte mir, was das zu bedeuten habe, wie die weitere Vorgehensweise voraussichtlich sein würde,… aber meine Aufnahmefähigkeit war beendet. Auf dem Bildschirm war noch das Bild vom Kopf dieses Kindes. Während Dr.A. mit mir sprach, sah ich immer wieder darauf und konnte es einfach nicht glauben. In meinem Kopf schrie es nur immer wieder nein! Ich fühlte mich taub, leer und tot. Einen Kaiserschnitt sollte ich bekommen, da man nicht wisse, wie der Geburtsverlauf durch das kranke Kind beeinträchtigt würde und damit das Risiko für das gesunde Kind erhöht werden würde. Es werde auf jeden Fall vorher geplant werden und falls die Schwangerschaft so lange hielt, spätestens in der 38. SSW gemacht werden.

Als ich wieder auf das Zimmer gebracht wurde, fühlte ich mich, als wäre ich nicht bei mir. Ich ließ meinen Mann anrufen, denn ich selbst wäre nicht dazu fähig gewesen. „Nein, Nein, Nein. Das ist alles gar nicht wahr. Das kann gar nicht so sein. Er muss sich getäuscht haben. Sowas gibt´s doch gar nicht…“ Meine Gedanken waren wirr, ich stand unter Schock. Meine Gefühle wechselten zwischen Wut, Angst, Trauer und Hoffnung.

Als mein Mann bei mir war, kam Dr.A. zu uns und erklärte uns auf sehr einfühlsame Weise noch einmal den Befund. Er erläuterte auch die möglichen Optionen dazu, wir könnten das kranke Kind durch einen Herzstich, eine Injektion abtöten lassen, was aber auch Risiken für das gesunde Kind berge. Es könnte dabei verletzt oder auch getötet werden, bzw. könnten durch den Eingriff frühzeitige Wehen ausgelöst werden, welche dann eine Fehlgeburt beider Kinder zur Folge haben könnten. An der Art wie er uns das sagte, erkannten wir aber, dass er nicht dafür war, und für uns kam es trotz allem sowieso nie in Frage. Wir hatten uns vorher auch schon gegen die Nackenfaltenmessung entschieden– wir wollten ein Kind und wir wollten es so, wie es eben war annehmen, und nicht dann „aber so nicht“ sagen.

Dr.A. erklärte uns, anencephale Kinder würden sich im Mutterleib soweit relativ normal entwickeln, hätten nach der Geburt aber nur eine Lebenserwartung von höchstens ein paar Stunden. Diese Fehlbildung sei mit dem Leben nicht vereinbar. Es gäbe auch die Möglichkeit, dass das kranke Kind schon während der Schwangerschaft absterbe, sich verkapsle und das gesunde Kind dadurch in der weiteren Entwicklung nicht beeinträchtigt werde. Weiters wäre es möglich, dass das kranke Kind abgeht und dabei auch das gesunde Kind „mitnimmt“ oder auch dass beide Kinder absterben. Er war sehr geduldig und beantwortete alle unsere Fragen. Dadurch wurde der Befund zwar nicht besser, aber er wurde in diesem ersten schockierenden Moment erträglicher. Dieser Arzt teilte mir die schlimmste Nachricht meines Lebens mit. Trotzdem hatte ich durch die Art seines Gespräches soviel Vertrauen zu ihm, dass ich ihn bat, uns durch unsere restliche Schwangerschaft zu begleiten (die Betreuung durch einen niedergelassenen Gynäkologen wäre laut Klinik nicht mehr möglich gewesen).

Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung war ich am 1.Tag der 14.Schwangerschaftswoche. Ich hatte rechnerisch also noch 26 Wochen vor mir. Ein halbes Jahr stand mir bevor, währenddem ich mit dem Wissen leben musste, dass eines unserer Kinder zum Sterben geboren würde.

Anenzephalie gehört zu den Störungen des Zentralnervensystems und ist als einer der möglichen Neuralrohrdefekte bekannt. Einerseits ist das Gehirn nicht vollständig ausgebildet, andererseits fehlt die knöcherne Schädeldecke, weshalb es dem Fruchtwasser ausgesetzt ist und dadurch mit fortschreitender Schwangerschaft zerstört wird.

Obwohl ich am fünften Tag bereits wieder nach Haus hätte dürfen, wollte ich noch zwei Tage bleiben, um mich sicherer zu fühlen. Aber trotzdem ich außer zur Toilette überhaupt nie aufstand, bekam ich wieder sehr starke Blutungen. Nun war es mir genug und ich war wütend – auf die nächste Blutung konnte ich zuhause genauso gut warten. Die Abschlussuntersuchung wurde von Dr.A. gemacht. Er ließ mich nicht gerne gehen, aber ich beharrte darauf. Mit nach Hause bekam ich jede Menge Magnesiumtabletten als Wehenhemmer und eine absolute „Liegeverordnung“.

Wir benannten unsere Kinder, denn es wurde nun ja immer getrennt von ihnen gesprochen: unser krankes Kind, das auch kleiner war, war unser Kleines, das gesunde Kind, war unser Großes– wir ließen uns bis zuletzt das Geschlecht der Kinder nicht sagen.

Nun begann mein Leben zu Hause zwischen Bett und Wohnzimmercouch. Am vierten Tag zuhause traten wieder starke Blutungen auf, die ich aber in der Klinik gar nicht mehr meldete. Ich empfand diese Schwangerschaft, auf die ich mich so sehr gefreut und auf die ich so gewartet hatte, als reinsten Albtraum. Vorher hatte ich immer meinen Bauch gestreichelt, mit meinen Kindern geredet, aber jetzt war ich nicht mehr fähig dafür. Manchmal weinte ich stundenlang. Ich konnte es einfach nicht fassen und obwohl mir klar war, dass es bestimmt kein Irrtum war, hoffte ich insgeheim darauf. Und es gab außer meinem Mann auch niemanden, mit dem ich über meine Sorgen reden konnte, der mir einfach nur zuhörte, anstatt zu beschwichtigen.

In der ersten Zeit nach der Diagnose wünschte ich mir oft, das Kind möge einfach bald absterben. Ich hoffe auf irgendeinen Ausweg, auf eine Verdrängungsmöglichkeit.

Oft hatte ich das Ultraschall– Bild von Dr.S. vor Augen. Da die Kinder auch damals schon übereinander lagen, wussten wir, dass das untere Kind, welches sich so heftig bewegt hatte, unser Kleines war. Es kam uns nun vor, als wollte es uns damals sagen, dass wir besonders gut auf es aufpassen und schauen müssten, da die gemeinsame Zeit nur begrenzt sein würde.

Zehn Tage nach meiner Entlassung hatten wir die erste Kontrolle bei Dr.A. Ich konnte nicht auf den Bildschirm sehen. Der Gedanke, dort mein todgeweihtes Kind zu sehen, brach mir fast das Herz. Das Blutungsareal war noch offen und damit die Gefahr, die Kinder zu verlieren nicht gebannt. Denn der Mutterkuchen der beiden lag so nahe beieinander, bzw. teilweise übereinander, dass bei einem Abgang beide Kinder verloren gewesen wären. Meine Nerven lagen blank und ich bekam nur mehr am Rande mit, dass Dr.A. mit meinem Mann sprach. Er erklärte meinem Mann nochmals alle möglichen Szenarien wie schon beim Diagnosegespräch und versuchte ihm aber auch Mut zuzusprechen.

Zuhause war wieder liegen angesagt und ich erinnerte mich an das Buch, das Dr.S. mir gegeben hatte: „Gute Hoffnung– jähes Ende“. Genau das würde uns nun bevorstehen. Ich vergrub mich also zum Teil in mentaler Vorbereitung auf das Unausweichliche. Wir kontaktierten unseren befreundeten Priester Herbert und baten ihn, bei der Geburt dabei zu sein, um unser Kleines zu taufen.

Manchmal kam mir der Gedanke, dass Salome wohl nicht umsonst gewesen sein würde: durch die Beschäftigung mit Fehl– und Totgeburt damals, wusste ich nun, worauf es im Ernstfall ankommt, welche Erinnerungsstücke und Rituale hilfreich sein können, und versuchte dies vorzubereiten. Wir waren uns einig, dass wir unser Kleines zuhause im Familiengrab beisetzen wollten, wir wollten Fotos und Abdrücke machen,… Die gedankliche Organisation dieser Dinge hat mich sehr beschäftigt und auch etwas abgelenkt.

Doch es gab auch Tage, an denen ich nur heulte und darum flehte, wohl besser nie schwanger geworden zu sein. Ich marterte mich mit Selbstvorwürfen und Fragen nach dem „Warum?“. „Wie sollte ich mich denn auf die Geburt eines Kindes freuen können, wenn ich doch wusste, dass das andere sterben wird? Hätte ich die zweite IUI nicht mehr machen lassen sollen? Hat die weite Autofahrt in den Urlaub geschadet? Hätte ich wirklich nichts tun können, um dies zu verhindern?“ In der Klinik wurde mir immer erklärt, dass das Einzige, was man tun könne, um die Wahrscheinlichkeit eines Neuralrohrdefektes zu verringern, die Einnahme von Folsäure sei, wirklich verhindern könne man es nicht. Die Folsäure hatte ich aber seit Beginn unseres Kinderwunsches in entsprechender Dosierung eingenommen.

Während meiner Schwangerschaft gab es immer wieder Menschen, die mir ständig sagten, ich müsse nur fest hoffen, dann würde ganz bestimmt alles gut werden. Das war für mich die pure Realitätsverweigerung und ich empfand es als tief enttäuschend. Denn damit wurde von mir auch erwartet, dass ich eine glückliche Schwangere sei und so täte, als gäbe es kein Leid.

Einen Monat nach meiner ersten Klinikaufnahme, am 21.08.2002 (18.SSW) stand wieder eine Kontrolle bei Dr.A. an. Er stellte fest, dass der Muttermund viel zu weich und auch offen sei, weshalb eine Cerclage (Ring um den Gebärmutterhals) unbedingt notwendig sei, diese aber noch nicht gemacht werden könnte, da noch immer Blut abginge. Ich müsste also inzwischen wieder stationär aufgenommen werden. „Nein, ich bleibe nicht!“ war meine Antwort und unter Zeugen (Krankenschwester) musste ich beteuern, auf eigene Verantwortung nach Hause zu gehen.

Daheim hielt ich mich sehr brav an die Liegeverordnung und war inzwischen wieder soweit in Kontakt mit meinen Kindern treten zu können. Anfang der 18.SSW spürte ich an meiner aufgelegten Hand die ersten Kindesbewegungen. Ich freute mich natürlich sehr darüber, empfand aber auch große Trauer bei dem Gedanken, sie könnten von unserem kranken Kind gewesen sein.

Obwohl jede Untersuchung den Ernst der Lage bestätigte, fiel mir die Entscheidung für die Cerclage sehr schwer. Wie bei jedem Eingriff in der Schwangerschaft bestand auch dabei die Gefahr, dass dadurch frühzeitige Wehen ausgelöst werden und die Kinder verloren wären.

Außerdem hatte ich schreckliche Angst vor dem Kreuzstich, obwohl ich nur Gutes davon gehört hatte. Am 06.09.2002 wurde der Eingriff von Dr.A. unter PDA (Periduralanästhesie– Kreuzstich) gemacht. Nach einer Woche wurde ich wieder aus der Klinik entlassen. Die Zustimmung für die Cerclage hatte mir viel Kopfweh bereitet. Die damit verbundenen Risiken (Fehlgeburt, Infektionsgefahr, Verletzung der Kinder….) erschienen mir als sehr groß, aber nun war ich froh, mich durchgerungen zu haben, schließlich bekam ich „zur Belohnung“ etwas mehr Bewegungsfreiheit in Form kleiner Spaziergänge.

An eine Begebenheit kann ich mich besonders gut erinnern. Es war ein wunderschöner, klarer Herbsttag mit strahlendem Sonnenschein. Ich ging zu einer Bank am Waldrand, von wo aus man einen herrlichen Ausblick hat. Es war für mich ein wirklicher Genuss, in aller Ruhe dort oben zu sitzen. Die Bewegungen unseres Kleinen waren wieder einmal deutlich spürbar und plötzlich wurde mir tief im Herzen bewusst, dass dieses Kind nie hier sitzen würde, dass es nie die Sonne und die Blumen sehen würde. Mir wurde mehr denn jemals zuvor klar, dass dieses Kind sterben würde.

In einem Babygeschäft kauften wir uns einen Spieluhr– Plüschhasen. „Fridolin“ spielte für die restliche Schwangerschaft eine sehr wichtige Rolle. Wann immer wir ihn aufzogen und auf meinen Bauch legten, begannen die Kinder entweder zu strampeln oder sich zu beruhigen. Und er quasi der Beschützer unserer Kinder– immer mit dabei.

Am 14.10.2002 (26.SSW) hatte ich bei einer Kontrolle einen Vertretungsarzt– Dr.B., den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es gab keine Begrüßung, nur seine Hand deutete auf die Untersuchungsliege. Er machte den Ultraschall und währenddessen erzählte er mir, dass es vor acht Jahren eine ebensolche Zwillingsschwangerschaft gegeben habe. Diese Eltern seien sehr gläubig gewesen, und hätten ihr Kind zur Organspende freigeben lassen wollen. Da man aber für die Organspende für hirntot erklärt werden muss, war das nicht möglich gewesen– „Denn wenn man kein Gehirn hat, kann man auch nicht für hirntot erklärt werden!“

Mir verschlug es die Sprache. Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich damals fühlte. Aber ich werde diese Worte nie vergessen, sie dröhnen in meinen Ohren, als wäre es gerade eben gewesen. Ich bekam dadurch das Gefühl, als wäre ich die Mutter eines hirnlosen Monsters, anstatt eines kranken Kindes. Ich sah auf dem Bildschirm unser Kleines, es bewegte sich, und musste mir so was anhören. Das war entschieden zuviel. Ich zog mich an und verließ den Raum ohne ein Wort.

Vielleicht waren es nur unglücklich gewählte Worte, vielleicht war es nur ein Überspielen des Gefühls von Hilflosigkeit. Aber wie viele schlaflose Nächte, wie viele Tränen und Zweifel diese Aussage in mir auslöste, hat dieser Arzt wohl nicht bedacht.

Auf der Suche nach Informationen und Klarheit über Anenzephalie fand ich im Internet die Homepage einer betroffenen Mutter (www.anencephaly.info). Dort finden sich neben medizinischem Wissen auf Erfahrungsbericht von Eltern, die ihr anencephales Baby ausgetragen haben. Auf Anfrage bekommt man ein Passwort zu geschützten Bildern von diesen Babys. Ich erhielt das Passwort einen Tag, bevor ich zum letzten Mal (ungeplant) stationär aufgenommen wurde. Das Ansehen dieser Bilder war mir eine große Hilfe, dann dadurch konnte ich viel Angst abbauen. Dass ich das Kind sehen wollte, war mir immer schon klar gewesen, aber nun freute ich mich darauf, anstatt mich davor zu fürchten. Wir kamen zu der Überzeugung, dass die Realität wohl nie so schlimm sein kann, als die Vorstellung in der Phantasie.

In der 27.SSW (23.10.2002) war die Kontrolle wieder bei Dr.A. Berufsmäßig war es meinem Mann ausnahmsweise möglich mit dabei zu sein. Gottseidank, denn auch diese Untersuchung brachte wieder schlechte Nachrichten: in der Fruchtblase des Kleinen hatte sich viel zu viel Fruchtwasser angesammelt (eine typische „Nebenwirkung“ eines anencephalen Kindes, warum es aber zu dieser Polyhydramnie kommt, ist bisher noch nicht geklärt). Dadurch war der Druck nach unten auf den Gebärmutterhals schon so groß, dass dieser nur mehr durch die Cerclage gehalten wurde. Ich fragte, was das zu bedeuten habe und bekam zur Antwort, dass ich hier bleiben müsste. Bis zum geplanten Kaiserschnitt in er 38. SSW waren es noch elf Wochen. Nein, so lange wollte ich nicht bleiben, aber diesmal halb es nichts mehr. Ich durfte von der Untersuchungsliege nicht mehr aufstehen.

Eine Entlastungspunktion wäre unbedingt notwendig und bei allem Verständnis für unsere Situation wäre es höchst unverantwortlich mich nach Hause gehen zu lassen, war die Antwort von Dr.A. Es gäbe nun einfach keine Alternative mehr, als bis zur Geburt hier zu bleiben. Ich wurde sofort an wehenhemmende Infusionen angehängt und auf die bevorstehende Fruchtwasserpunktion am nächsten Tag vorbereitet. Da eine Punktion aber auch das Risiko birgt, eine Geburt auszulösen, wurde gleichzeitig auch der OP für den Kaiserschnitt in Bereitschaft gesetzt.

Doch die Punktion verlief gut, Fridolin passte an der Bauchseite gut auf uns auf und es setzten keine Wehen ein. Während des Eingriffs sprach ich mit Dr.A. über die Aussage seines Vertretungsarztes und er berichtete mir, dass es bei den Dienstbesprechungen einige Diskussionen darüber gegeben habe, warum das Kleine nicht abgetötet werde.

Der Klinikaufenthalt fiel mir diesmal besonders schwer. Denn ich kam mit zwei lebenden Kindern in meinem Bauch hinein, und ich wusste, dass ein Kind sicher tot sein und das zweite hoffentlich leben würde, wenn ich wieder herauskam. Es war ein Kampf mit den Gefühlen. Ständig hin– und hergerissen zwischen Hoffnung und Trauer. Dieser ewige Zwiespalt mit einem Auge lachen und mit dem anderen weinen zu müssen, machte mir sehr zu schaffen. Ich wollte und sollte mich auf das gesunde Kind freuen, andererseits hatte ich auch stets im Hinterkopf, dass gleichzeitig unser zweites Kind sterben würde. Ich konnte mich nicht uneingeschränkt freuen, aber auch nicht ganzen Herzens trauern, denn dann hatte ich wieder ein schlechtes Gewissen dem gesunden Kind gegenüber. Es war ein Teufelskreis. Ich war im innersten meines Herzens zerrissen.

Aber unseren Kindern schien das ziemlich egal zu sein. Während ich das Bett nur zur Toilette verlassen durfte, strampelten sie fast ohne Ende. Besonders unser Kleines. Es war viel lebhafter und temperamentvoller als unser Großes und verschickte damit ein unübersehbar starkes Lebenszeichen. Fridolin machte auf meinem Bauch wahre Seiltanzaktionen. In solchen Momenten konnten wir trotz aller Bitterkeit auch herzhaft lachen.

Dieses Lebenszeichen unseres Kleinen war Manchem aber offenbar ein Dorn im Auge. Bei einer Sonntagsvisite kam wiederum ein mir völlig unbekannter Arzt– Dr.H. Er fragte zuerst kurz nach meinem Befinden und dann, warum wir denn dieses lebensunfähige Kind nicht endlich abtöten lassen würden. Die mit anwesende Schwester war ebenso schockiert und sprachlos wie ich. Ich bat den Arzt sofort das Zimmer zu verlassen. Etwas später holte ich die Schwester und ersuchte sie, schriftlich zu deponieren, dass ich keinerlei Diskussion mehr über unsere Kinder wünsche. Und daran haben sich zumindest mir gegenüber dann auch alle gehalten.

Nach zehn Tagen gingen mir die Infusionen ziemlich auf die Nerven. Ich hatte noch nicht eine Wehe gehabt und hing Tag und Nacht durchgehend an diesem blöden Ding. Also bettelte ich Dr.A. an, sie mir abzunehmen. Nun gut, wir einigten uns auf den 07.11.2002, wenn bis dahin alles ruhig bliebe, würde ich sie loswerden.

Aber wie schon so oft, kam es ganz anders. In der Nacht zum 07.11.2002 (29.SSW) bekam ich ganz leichte Wehen, welche ich zuerst gar nicht als solche wahrnahm. Erst als das Ziehen auch am Morgen nicht nachließ, machte ich mir Sorgen. Der Wehenschreiber zeichnete tatsächlich Wehen auf. Sofort wurde ich zu Dr.A. zum Ultraschall gebracht. Unser Kleines hatte sich schon weit nach unten verkrochen, aber der Muttermund war noch in Ordnung. Ich bekam ein Zäpfchen gegen die Wehen. Aber es wurde nicht weniger, sondern immer mehr. Schon am frühen Nachmittag wurde ich in den Kreißsaal gebracht und an den Wehenschreiber angehängt. Die Wehen kamen schon in sehr kurzen Abständen und Dr.A. meinte, er wolle es versuchen, aber es wäre wohl nicht mehr aufzuhalten. Inzwischen kam der Blutbefund der Abnahme vom Morgen: ich hatte einen Wert, der eine Entzündung in der Gebärmutter anzeigte.

Die Dosis der Wehenhemmer wurde erhöht, Antibiotika gespritzt… mangels Wirkung die Wehenhemmer getauscht. Aber die Wehen gönnten mir fast keine Verschnaufpause mehr. Mit allem Willem versuchte ich mich gegen die beginnende Geburt zu wehren. Woher ich noch diese Willenskraft aufbringen konnte, weiß ich heute nicht mehr. Ich war am Ende meiner Nerven, aber ich wollte die Kinder noch bei mir behalten. Ich war erst Anfang der 29.SSW und ich wusste, dass jeder weitere Tag wichtig für unser gesundes Kind war. Mit der Maximaldosis an Wehenhemmer gelang es schließlich doch noch, die Wehen wieder zum Abklingen zu bringen. Kurz vor Mitternacht wurde ich wieder auf mein Zimmer gebracht. Ich war voll Hoffnung und Zuversicht, dass sich die Geburt doch noch etwas länger hinauszögern lässt.

Als am nächsten Morgen der Oberarzt der Säuglings– Intensivstation zu mir kam, um die Situation im Ernstfall (frühzeitige Geburt) zu besprechen, sagte ich noch, ich hätte das Gefühl, es noch mal geschafft zu haben.

Doch schon zu Mittag fingen wieder heftige Wehen an und ich kam wieder in den Kreißsaal zu Dr.A. Laut Ultraschall seien die Kinder in Ordnung, aber die Lage wäre sehr kritisch, meinte er. Als der Blutbefund kam, wurde aus dem sonst so fröhlich optimistischen Arzt ein ernster Mann: Die Entzündung war über Nacht so fortgeschritten, dass das Infektionsrisiko für das gesunde Kind immens groß sei, sollte es denn überhaupt noch einmal gelingen die Wehen zu stoppen (in diesem Schwangerschaftsstadium hat ein Kind mit einer Infektion nur schlechte Überlebenschancen). Um 15:30 Uhr fiel die Entscheidung, den Kaiserschnitt so schnell als möglich zu machen.

In diesem Augenblick blieb mir das Herz fast stehen. Denn ich wusste, dass mit dieser Entscheidung der baldige Tod unseres Kleinen besiegelt war. Ich hatte das Gefühl, als hätte man eine Sanduhr umgedreht, die nun nicht mehr aufhörte zu rinnen und deren Zeit sehr begrenzt war. Ich musste die Einverständniserklärung für einen Eingriff unterschreiben, der eigentlich das sichere „Todesurteil“ für unser Kind war und dabei spürte ich seine immer noch heftigen Bewegungen. Andererseits hatte ich gar keine andere Wahl, denn auch das Leben unseres Großen stand auf dem Spiel.

Als mein Mann kam, weinten wir erst einmal gemeinsam. Er hatte so viele Stunden an meinem Bett verbracht und nun war das bittere Ende, das wir ja unaufhaltsam auf uns zukommen sahen, so nah. Wir riefen unseren befreundeten Priester Herbert an und hofften, dass er es noch rechtzeitig in die Klinik schaffen würde.

Wir übergaben Dr.A. eine schriftliche Auflistung unserer Wünsche: wir wollten, dass er selbst den Eingriff macht, dass dieser unter PDA gemacht wird (um die Chance unser Kleines lebend sehen zu können so groß als möglich zu halten), dass unser Kleines eine Schmerztherapie erhalten und sofort getauft werden soll, dass wir Fotos und Abdrücke wollen, dass wir unser Kleines auch sehen ich es wenn möglich auch stillen möchte, dass unser Großes im Notfall natürlich auch getauft werden soll, dass unser Kleines nicht obduziert werden soll, bis zu meiner Entlassung in der Klinik konserviert und erst dann zuhause im Familiengrab beerdigt werden soll; und wir haben auch die Namen festgelegt: unser Kleines sollte Sarah oder Elias, unser Großes Julia oder Philipp genannt werden.

Schließlich konnte nicht länger auf Herbert gewartet werden und ich wurde in den OP gebracht. Während ich Wehen hatte, musste ich für den Kreuzstich still sitzen. Aber als dessen Wirkung einsetzte, ging alles sehr schnell. Allerdings: Dr.A. wies die Anästhesisten noch an, nur ja auf meinen Hasen aufzupassen und so legten sie mir Fridolin am Kopf zur Seite.

Ich selbst war am Ende und wurde von Weinkrämpfen durchgeschüttelt. Irgendwann merkte ich, dass es nun soweit sein würde. Am Gespräch der Ärzte erkannte ich, dass unser Kleines bereits da war, aber es herrschte eine gespenstische Stille und eine Hebamme rannte aus dem OP hinaus. Kurze Zeit später hörte ich ein leises, quietschendes, jämmerliches Schreien und eine andere Hebamme zeigte mir für einen kurzen Augenblick unser Großes aus einiger Entfernung, es wurde sofort auf die Säuglings– Intensivstation gebracht.

Es war nun also vorbei. So lange ich schwanger gewesen war, hatte ich mir immer vorgestellt, ich würde in diesem Moment durchdrehen und total die Nerven verlieren, schreien…. Aber nun, da dieser Zeitpunkt gekommen war, wurde ich plötzlich ganz ruhig. Ich konnte nicht mehr weinen, ich hatte keine Tränen mehr. Eine seltsame Ruhe machte sich in mir breit.

Während ich noch versorgt wurde, kam eine Hebamme zu mir und hielt mir unser Kleines hin, sodass ich es sehen konnte und sagte: „ Das ist Ihre kleine Sarah!“ Ich sah sie an und war überwältigt, ich fand sie so schön. Dass die Hebamme auch sagte, dass sie bereits gestorben sei, nahm ich nicht wirklich wahr. Etwas später durfte mein Mann zu mir sitzen. Er war mit Herbert, der es übrigens noch geschafft hatte, und dem Klinikseelsorger in einem Raum nebenan gewesen und hatte dort auf unser Kleines für die Taufe gewartet. Nun sagte er mir, dass wir auch einen großen Philipp hätten.

Wie mir die Hebamme später einmal sagte, hat Sarah nicht selbständig zu atmen begonnen. Sie hatte zwar noch Herzaktionen und reflexartige Bewegungen, welche aber schon nach sehr kurzer Zeit endeten. Ich habe sie nicht mehr lebend gesehen. Sie wog 930g und war 33 cm groß.

Schließlich wurde ich zur Überwachung in den Aufwachraum gebracht, dort bekam ich dann auch zum ersten Mal Sarah in den Arm. Sie hatte die kleine Mütze auf, die mein Mann für sie besorgt hatte. Ihre Augen waren offen, denn sie konnte sie nicht schließen. Ich konnte mich an diesem Kind nicht satt sehen, ich hatte das Gefühl, als würde sie mich ansehen. Der anwesende Pfleger war sehr betroffen und ich konnte sehen, dass er mit den Tränen kämpfte. Wir sprachen miteinander und ich hatte das Bedürfnis, ihn zu trösten und zu beruhigen.

Mit Sarah auf dem Arm wurde ich wieder in mein Zimmer gebracht. Ich konnte es selbst nicht glauben, wie ruhig ich war. Ich hielt sie und sah sie an, streichelte ihre Hände und ihr Gesicht. Meinem Mann ging es sehr schlecht. Er weinte bittere Tränen, aber ich brachte nicht eine einzige hervor. Wir machten die Fotos und Stempelabdrücke von jeweils einem Händchen und einem Füßchen. Sie war einfach perfekt und wunderschön. Ich hatte nicht den Eindruck, als ob sie tot sei, sie sah so lebendig aus mit ihrem leichten Lächeln auf den Lippen. Sie hatte, wie wir später sahen im Gegensatz zu Philipp, ganz nett stämmige Arme und Beine– ich vermute vom vielen Strampeln. Sie fühlte sich auch so lebendig an, sie war noch etwas warm und weich. Ich wusste zwar, dass sie tot war, aber ich realisierte es nicht im Geringsten. Für eine kurze Zeit nahm ich ihr auch die Mütze ab. Auf einem kleinen Fleckchen hatte sie viele ganz dunkle Haare. Wir legten Fridolin neben Sarah und ließen ihn noch ein letztes Mal sein Lied für sie spielen, das sie offensichtlich so geliebt hatte. Schließlich sagten wir unserer kleinen Sarah „Lebewohl“, legten sie zurück in ihr Bettchen und ließen sie holen. Sogar als sie aus dem Zimmer geschoben wurde, blieb ich ziemlich ruhig.

Mein Mann ging noch zu Philipp auf die Intensiv–Station. Er griff in den Brutkasten und Philipp umfasste mit seinem winzigen Händchen Papas Finger. Mit einem, unter diesen Umständen so gut als möglichen, strahlenden Gesicht kam mein Mann mit einem Foto von Philipp in der Hand wieder zu mir.

Über Nacht verschlechterte sich mein Zustand drastisch. Ich bekam hohes Fieber, war sehr schwach und hatte starke Schmerzen. Dr.A. kam am nächsten Morgen zu mir und erklärte mir, dass es bei der OP selbst auch Komplikationen gegeben hatte. So waren durch die Gebärmutterentzündung die Blutgefäße geweitet und ich verlor viel Blut, sodass ich eine Konserve bekommen musste. Und da Sarah schon so weit nach unten abgerutscht gewesen war, wurde dann bei der Geburt die Gebärmutter ein wenig eingerissen. Und zu allem Überfluss musste wegen der Entzündung dann auch noch eine Ausschabung gemacht werden. Mein Zustand kam also nicht von ungefähr.

Es fiel mir unglaublich schwer, diese Situation zu ertragen. Eines der Kinder war tot, das zweite lag weit entfernt auf der Intensivstation und ich war einfach nicht in der Verfassung dorthin zu kommen. Ich rief auf der Station an und entschuldigte mich, dass ich nicht zu meinem Kind käme. Erst am dritten Tag nach der Geburt, war ich fähig, mit Unterstützung in den Sitzwagen zu steigen und mich zum ersten Mal für kurze Zeit zu Philipp fahren zu lassen. Es war herrlich, endlich unser Kind im Arm halten zu können.

An den ersten beiden Tagen nach der Geburt wurde ich öfters gefragt, ob ich Sarah noch mal sehen wollte, aber ich verneinte stets. Wir wollten sie so wie wir sie nach der Geburt gesehen hatten in Erinnerung behalten, denn es war uns klar, dass sich ihr Aussehen durch die Konservierung verändern würde.

Nach einigen Tagen war ich endlich fieberfrei und so langsam hatte ich das Gefühl, aus meinem Trancezustand zu erwachen. Ich begann zu realisieren, was eigentlich geschehen war und wollte nur noch schreien. Stunde um Stunde lag ich im Bett und heulte.

Bei einer Visite lag ich total verweint wie ein Häufchen Elend im Bett. Ganz erstaunt fragte die Ärztin Dr. AE.: „Ja, was ist denn mit Ihnen los? Warum weinen Sie denn?“ Zuerst sah ich sie nur einmal an und antwortete dann, dass doch mein Kind gestorben sei. „Ja aber Sie haben auch ein Lebendes!“ war alles, was sie mir dazu zu sagen hatte.

Schließlich wurde mir klar, dass ich Sarah noch einmal sehen musste. Ich musste ihren Tod bewusst wahrnehmen, mich bewusst von ihr verabschieden und ihren Tod wirklich begreifen, was mir am Abend der Geburt einfach nicht möglich gewesen war. Ich rief unseren Bestatter an und bat um die Möglichkeit, Sarah nach meiner Entlassung bei ihm noch mal zu sehen. Doch er meinte, dass dies nach einer so langen Zeit wohl nicht mehr möglich, und auch nicht ratsam wäre.

Aber ich blieb hartnäckig. Tief in meinem Inneren wusste ich einfach, dass ein bewusstes Abschied nehmen für mich unbedingt notwendig wäre.

Zehn Tage nach der Geburt war es soweit, Sarah wurde mir noch einmal ins Zimmer gebracht. Dass dies möglich war, habe ich der Hebamme zu verdanken. Mein Mann und Klinikseelsorger waren einige Zeit auch dabei. Es fiel mir dieses zweite Mal nun unendlich schwerer. Ich „be–griff“ und sah, dass Sarah tot war. Sie war kalt und starr, die Haut war verfärbt und sie fühlte sich „leer“ an. Die Hebamme hatte ihr einen Blütenzweig in die Hände gelegt. Ich sagte ihr all das, was mir auf dem Herzen lag und doch fühlte ich, dass ich nur zu ihrem Körper sprach. Zitternd und heulend hielt ich sie in meinem Arm und als nach etwa zwei Stunden auf meine Bitte hin die Hebamme kam um sie wieder zu holen, wollte ich sie nicht mehr loslassen. Ein letztes Mal nahm ich sie ihr aus dem Arm und hielt mein totes Kind in Händen. Dann sagte die Hebamme voll Liebe zu mir: „Aber jetzt holen wir sie nicht mehr, jetzt lassen wir sie ruhen.“ Und ich antwortete „Ja“. Als sie Tür hinausgetragen wurde, glaubte ich zerreißen zu müssen. Dennoch spürte ich auch, dass dies sehr wichtig für mich gewesen war und als ich mich später wieder etwas beruhigt hatte, fühlte ich mich erleichtert.

Während der vielen Gespräche, die ich mit Dr.A. noch nach der Entbindung führte, kamen wir nochmals auf die Diskussionen über unser Kleines zu sprechen. Und er erzählte mir, dass er sich als mein behandelnder Arzt manchen Kollegen gegenüber fast dafür rechtfertigen und verteidigen hatte müssen, warum denn unser Kleines nicht abgetötet worden sei. Dr.A. war es aber auch, der uns dazu überredete, doch die Obduktion durchführen zu lassen. Anhand des pathologischen Befundes und einer anschließenden genetischen Beratung könne man das Wiederholungsrisiko einschätzen. Wir willigten also ein, was ich später aber tief bereute, da sich in unserm Fall das Wiederholungsrisiko genetisch nicht feststellen ließ.

Dass sich die Operationswunde auch noch entzündet hatte, war nur mehr das Tüpfchen auf dem I meines Klinikaufenthaltes. Zuletzt bekamen wir Sarah´s Taufkerze, welche von der Klinik zur Verfügung gestellt worden war, mit nach Hause.

Unmittelbar nach meiner Entlassung 17 Tage nach der Geburt am 25.11.2002 gingen wir auf dem Heimweg noch in ein Geschäft eine Bekleidung für Sarah kaufen. Ich sagte, es wäre für ein Mädchen und es müsse möglichst klein sein. Doch alles was mir die Verkäuferin brachte, war viel zu groß. Ich bat noch mal um etwas Kleineres und sie antwortete mir: „Ach, die wachsen ja eh so schnell hinein.“ Ich sah sie an und sagte: „Nein, sie wird nicht wachsen, es ist für die Beerdigung.“ Nun stand ich weinend vor ihr und bat sie kurz darauf noch um die verschriebene Milchpumpe und einen Still–BH. In den Augen der Verkäuferin stand das blanke Entsetzen, also erklärte ich ihr „ich habe noch ein lebendes Kind im Krankenhaus.“

Diese Begegnung war eine von vielen, die diesen Widerspruch von Leben und Tod im gleichen Augenblick so deutlich machten.

Zwei Tage vor dem Begräbnis fuhren wir zum Bestatter. In meiner zittrigen Hand hielt ich ein winziges Päckchen. Die Bekleidung für Sarah, zwei Holzkreuze und zwei eingepackte Objektträger. Wenige Monate vor unserer Hochzeit waren mein Mann und ich in Assisi gewesen. Seit damals trugen wir diese Holzkreuze. Und die Objektträger waren die letzten Überreste von unserem ersten Kind Salome – mein Gynäkologe Dr.S. war so nett gewesen und hat uns diese vom Pathologen organisiert. Somit erfüllten sich für uns zwei Anliegen – über die Kreuze selbst mit Sarah verbunden zu bleiben und unsere beiden verstorbenen Kinder zu vereinen.

In der Gärtnerei bestellte ich ein Blumenbouquet für die Beerdigung. Weiße Rosen und Lilien sollten es sein, und nur ja keine Nelken. Eine weiße Schlaufe sollte auch dabei sein. Auf die Frage, was darauf geschrieben werden sollte, konnte ich fast nicht antworten. Diese Worte „In Liebe– Mama und Papa“ wollten einfach nicht über meine Lippen kommen. Meinem Empfinden nach war es einfach absurd, dass ich als Mutter die Beerdigung meines Kindes organisieren sollte. Dabei wollte ich diese Aufgaben ja alle selbst erledigen und ich hätte keinesfalls jemand anderen darum gebeten. Es ging dabei vielmehr um die in meinem Kopf verankerte Vorstellung, dass Kinder die Beerdigung ihrer Eltern vorbereiten und nicht umgekehrt.

Herbert hielt eine Engelmesse für unser kleines Mädchen, die wir im Familienkreis feierten. Ein befreundetes Musikerehepaar gestaltete die Messe sehr würdevoll und schön. Während der Messe brannten auf dem Altar unsere Hochzeitskerze (sie trägt die Aufschrift „Ich bin bei Euch“), Sarah´s Taufkerze und eine große Kerze mit einem Engel, die meine Mutter machen hatte lassen. Anschließend wurde Sarah im Familiengrab beigesetzt. Wie schwer es ist, hinter dem kleinen weißen Sarg seines eigenen Kindes nachgehen zu müssen, kann ich mit Worten nicht beschreiben. Es schien meine Kraft zu übersteigen, als mir der Bestatter das Weihwasser zum Bespritzen des Sarges (ein Zeichen des Segens vor dem letzten Abschied) reichen wollte, aber es gab kein Entrinnen.

Statt einer Beileidsbekundung sagte ein Bruder meiner Schwiegermutter nach dem Begräbnis einfach „Schutzengelmama“ zu mir. Zuerst war ich etwas erschrocken, aber diese Vorstellung gefällt mir. Ich hoffe, dass es mir irgendwann gelingt, mich nicht mehr überwiegend als trauernde Mama, sondern als eine auch ein bisschen stolze Schutzengelmama zu sehen.

Philipp hatte ein Geburtsgewicht von 1.100g und war 38cm groß. Er war bis zum 26.11.2002 auf der Säuglings– Intensivstation und musste dann noch bis 07.01.2003 auf der Nachfolgestation Säugling I bleiben. Er bekam sehr lange Antibiotika, da er trotz der schnellen Sectio von der Entzündung etwas abbekommen hatte. Er war einfach ein winzig kleines Frühchen, das mich immer an ein Vögelchen erinnerte, das aus dem Nest gefallen war. Erst am zehnten Tag nach der Geburt öffnete er seine Augen, die bis dahin verschlossen waren und er unserm Gefühl nach auf einem anderen Stern. Bei seiner Entlassung wog er gerade einmal 1.870g und hatte noch das offene Foramen ovale (eine „Lücke“ im Herzen, die für den Blutkreislauf während der Schwangerschaft notwendig ist und sich normalerweise zur Geburt hin verschließt).

Meine letzte Hoffnung auf irgendetwas Positives rund ums Kinderkriegen war das Stillen. Doch auch diese wurde mir nicht erfüllt. Zuerst war Philipp zu klein um voll gestillt zu werden (er hat zum Großteil die abgepumpte Muttermilch mit der Flasche bekommen, weil das weniger anstrengend ist) und dann musste ich bedingt durch eine Nierenbeckenentzündung einige Tage ganz aussetzen– danach wollte er an der Brust nicht mehr trinken. So habe ich dann ausschließlich abgepumpt, aber das hat für mich mit Stillen nichts mehr zu tun.

Fridolin ist immer noch an seiner Seite. Aber wir haben viele Wochen gebraucht, um es über´s Herz zu bringen und seine Spieluhr aufzuziehen. Und selbst nach dieser Zeit haben wir beim ersten Ton geweint. Zu sehr sind mit dieser Melodie die Erinnerungen an Sarah verbunden.

Nachdem wir der Obduktion von Sarah zugestimmt hatten, bat ich um die Zusendung des pathologischen Befundes. Als ich ihn bekam, war ich völlig schockiert. Ich kannte natürlich die pathologische Praxis nicht, aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Unser Kind war bis auf das letzte Organ auseinander genommen, abgewogen und vermessen worden. War das denn wirklich nötig, wo doch die Todesursache bekannt war?

Wie besprochen, gingen wir mit diesem Befund zu einer genetischen Beratung. Wir sagten dort, dass wir deshalb hier wären, um das Wiederholungsrisiko eines anencephalen Kindes einschätzen zu lassen. Wir wurden dann allerdings darüber aufgeklärt, dass es diese Möglichkeit in unserem Fall nicht gäbe, da bei Sarah ein isolierter Anencephalus (Anenzephalie ohne weitere genetische Störungen) vorliege, der nicht mit irgendwelchen möglichen Erbkrankheiten in Zusammenhang stehe und das Wiederholungsrisiko daher nicht berechnet werden könne.

Unsere Enttäuschung war riesengroß. Wir hatten keine Obduktion gewollt, hatten uns über das Argument der genetischen Beratung doch dazu überreden lassen und nun war es aus unserer Sicht umsonst gewesen, da das Wiederholungsrisiko genetisch nicht bestimmt werden konnte.

Das hat mich sehr beschäftigt und beunruhigt. Ich versuchte mir vorzustellen, wer wohl so ein Baby obduzieren würde und vor allem wie. Also vereinbarte ich einen Gesprächstermin beim Pathologen Dr.K. Seither kann ich gut mit Sarah´s Obduktion leben. Ich konnte mir nun bei diesem Arzt ohne Zweifel einen würde– und pietätvollen Umgang mit unserm Kind vorstellen. Er beantwortete alle meine Fragen zum Befund selbst und er machte mir vor allem auch eines deutlich: Wäre nicht Sarah, sondern Philipp das am Muttermund liegende Kind gewesen, so wäre mit größter Wahrscheinlichkeit auch er gestorben. Denn Sarah, die sowieso nie eine Lebenschance gehabt hatte, hat durch ihre Position in der Gebärmutter die Infektion, die sie im schlimmstmöglichen Stadium hatte, abgefangen und Philipp dadurch einen besseren Start ermöglicht. Diese Erkenntnis, die ich ohne Obduktion nie gehabt hätte, hat mich damit gleichzeitig auch wirklich befriedet.

Rückblickend bin ich sehr, sehr froh, dass wir alles so gemacht haben. Wir haben alles für dieses Kind getan, was wir tun konnten. Wir haben dieses Kind von ganzem Herzen geliebt und haben auf unsere Weise Sarah diese letzten Liebesdienste erwiesen. Manchmal fällt es mir schwer an sie zu denken und nicht gleich zu weinen, aber ich auch unendlich dankbar für diese, wenn auch grausame, Erfahrung. Sie hat uns auch sehr viel Freude geschenkt, mit ihrem starken und fast unaufhörlichen Strampeln, das uns ewig in Erinnerung bleiben wird.



Das nachfolgende Gedicht war ein Teil unserer Geburtsanzeige. Ich habe es in der Klinik geschrieben, als ich noch schwanger gewesen war. Ich bin mir ganz sicher, dass Sarah meine Gedanken gefühlt hat– denn so heftig wie damals hatte sie vorher noch nie gestrampelt.

Sarah

Viel zu kurz war Dein Leben–
Und doch sind wir dadurch reich geworden.
Reich an Gefühlen und Erinnerungen.
Du hast dich bemerkbar gemacht–
Mit vollem Temperament.
Wir haben es gesehen und gefühlt.
Als wolltest Du uns beweisen, wie sehr Du lebst.
Als wolltest Du Dich unauslöschlich in uns einprägen.
Das ist Dir gelungen.
Du hast Spuren in unseren Herzen hinterlassen–
Sie werden niemals vergehen.

 

, Österreich

 

 

Gedanken zum Thema:

Betroffene Eltern sind unmittelbar nach dem Tod ihres Kindes in einer sehr schwierigen Lage. Sie müssen Entscheidungen treffen, für die ihnen aber die Kraft und der Wille fehlen. In so einer Situation sind die Eltern meist völlig manipulierbar, was z.B. die Konservierung oder Beerdigung des Kindes betrifft. Wird der meist gut gemeinte Ratschlag, wegen einer übergroßen psychischen Belastung oder zu hoher Kosten das Kind nicht anzusehen, nicht bis zur Entlassung der Mutter zu konservieren oder nicht zu Hause bestatten zu lassen, nur oft genug vorgetragen, werden die Eltern meist irgendwann ihre Zustimmung dafür geben.

Wir haben das auch selbst erlebt. Ursprünglich hatten wir eine Obduktion schriftlich abgelehnt. Doch wir wurden so lange mit Argumenten überhäuft, bis wir doch unsere Zustimmung gaben. Auch bei der Konservierung bis zu meiner Entlassung wurde mir öfters gesagt, wie hoch doch die Kosten dafür wären, das wäre ja nahezu unbezahlbar. Das wurde so überzeugend vorgetragen, dass ich für einen kurzen Augenblick ernsthaft daran zweifelte, ob wir uns das auch wirklich leisten konnten. Letztendlich stellte sich jedoch heraus, dass die Konservierung von Sarah bis zur Beerdigung nicht einen einzigen Cent kostete. Wie sehr hätte ich es bereut, wäre die Beerdigung wegen dieser völlig falschen Aussage ohne mich abgehalten worden.

„Sei doch froh, du hast ja wenigstens ein Kind. Du kannst noch so viele Kinder haben. Musst du dich eben mit Philipp trösten.“ Ein Kind kann und soll nie ein anderes ersetzen. Ich kann doch nicht die Freude über Philipp mit der Trauer über Sarah aufwiegen. Es muss für Beides Platz sein.

„Du hast es ja vorher gewusst, dann ist es auch nicht so schlimm. Für Sarah war es bestimmt besser so, wer weiß, was sie alles gehabt hätte.“ Jede Vorstellung, jede Alternative wäre leichter zu ertragen gewesen, als die Tatsache, dass dieses Kind in meinem Arm tot ist.

„Es hätten auch beide sterben können.“ Es wird immer noch etwas Schlimmeres geben, aber damit lässt sich Leid nicht lindern.

„Jetzt hast du dafür eben ein Engelchen.“ Ich könnte gerne darauf verzichten, wenn nur Sarah leben könnte.

„Stell dir doch vor wie schlimm es wäre, ein Kind auszutragen und dann zu verlieren.“ Das wurde mir nach der Fehlgeburt oft gesagt und ich habe es dann genau so erlebt. Aber im Schmerz und in der Trauer sind für mich beide Kinder gleich.

Ich habe auch erlebt, dass die Rolle des Vaters fast völlig untergeht. Er wird oft nur gefragt, wie es denn seiner Frau geht. Ich glaube aber, dass mein Mann nicht der Einzige ist, der nicht nur um sein verstorbenes Kind getrauert hat, sondern auch die Frau, die litt und der er nicht helfen konnte. So musste mein Mann dann auch nach den gesetzlich freien Tagen wieder arbeiten. Das ist Belastung und auch Chance. Denn er musste ja bei den Kunden seine Pflicht erfüllen und so tun als ob nichts gewesen wäre. Andererseits bringt der Alltag ein Gefühl von Sicherheit in einer so stürmischen Zeit.

Ich habe den Wunsch, dass es in möglichst vielen Orten einmal jährlich eine Gedenkmesse für alle Kinder gibt, die während der Schwangerschaft, bei oder kurz nach der Geburt gestorben sind.

Die katholische Kirche setzt sich sehr für den Schutz des ungeborenen Lebens ein, das ist auch wichtig. Kinder, die aber auf so tragische Weise sterben, bleiben fast völlig unbeachtet. Auch sie sind Kinder Gottes und sollten nicht in Vergessenheit geraten. Sie hatten ja meist gar keine Chance getauft zu werden, da die Taufe für Lebende vorgesehen ist und deren Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche symbolisiert. Damit entfällt aber für totgeborene Kinder auch eine kirchliche Begräbnisfeier (statt einer hl. Messe gibt es nur eine Segnung in Begleitung eines Priesters) und die Möglichkeit z.B. eine Messe für das verstorbene Kind zu bestellen. Das ist für viele Eltern eine zusätzliche Belastung. Auch wenn der Sinn des Messopfers ja in der Bitte um die Erlösung einer armen Seele liegt, was in Fall eines neugeborenen Kindes nicht zutrifft. Für die betroffenen Eltern ergibt sich dennoch das Gefühl, dass ihre Kinder unbeachtet auf die Seite geschoben und vergessen werden. Und da es leider immer noch ein Tabu ist, über dieses Thema zu reden, gibt es eben auch keine Gedenkfeiern für fehl– oder totgeborene Kinder in den Pfarrgemeinden unserer Diözese. Ich bin aber der festen Überzeugung, wenn das Angebot seitens der Pfarreien da ist, werden es viele Eltern gerne annehmen.

Ein erster Schritt wurde inzwischen gemacht: Nach einem persönlichen Gespräch mit unserem Bischof hat sich dieser bereit erklärt, jährlich am 2.Adventsonntag (dem weltweiten Gedenktag– Worldwide Candlelightning Day) eine Gedenkmesse im Dom zu halten. Sie fand 2004 zum ersten Mal statt und der Dom war bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die Situation eines verstorbenen Kindes ist auch besonders belastend für die Beziehung der Eltern. Jeder hat eine andere Art des Trauerns und der Verarbeitung. Ebenso ist die Dauer dieser Vorgänge unterschiedlich. Diese Unterschiede einfach zu akzeptieren und nicht zu bewerten, ist besonders schwierig. Nach dem Verlust eines Kindes sind die Ehen der Eltern stark trennungsgefährdet. 80% dieser Partnerschaften scheitern daran.

Als Philipp noch stationär in der Klinik war, fuhren wir täglich auf dem Heimweg von ihm noch am Friedhof vorbei und machten einen Grabbesuch bei Sarah. Doch als Philipp dann zuhause war, konnte ich einfach nicht mehr täglich dorthin. Mit dem Kinderwagen war es mir zu weit und zu steil und ich hatte auch niemanden, bei dem ich Philipp zu Hause lassen konnte. Mein Mann jedoch behielt diesen Brauch bei und fuhr am Heimweg von der Arbeit immer noch zu Sarah. Das hat mich rasend gemacht, aber ich konnte nicht mit ihm darüber reden. Bis ich dann irgendwann explodierte und ihm vorhielt, sein lebendes Kind zu vernachlässigen, weil er durch den Umweg später nach Hause kam. Das war natürlich völlig sinnlos, aber es zeigt auch meine Schwierigkeiten, diese eben andere Art des Trauerns meines Mannes zu akzeptieren.

Für Betroffene besonders wichtig ist, dass es jemanden gibt, mit dem sie reden können, der ihnen einfach nur zuhört, ihre Sorgen und Ängste ernst nimmt und nicht beschwichtigt. Enge Angehörige sind manchmal nicht dafür geeignet, da sie im weiteren Sinn selbst betroffen sind und trauern. Wenn die Mutter dann z.B. vor ihrer Mutter sitzt und dies schon beim bloßen Gedanken an das verstorbene Enkelkind weint, ist das keine Hilfe.

Es gibt keinen Weg an der Trauer vorbei, es gibt nur einen Weg durch die Trauer hindurch. Wir können natürlich versuchen so einen Trauerfall zu verdrängen, aber irgendwann wird uns die Trauer einholen und sie überrollt uns mit voller Wucht von hinten. Das kann auch erst Jahre oder Jahrzehnte später sein. Aber ich glaube, dass wir die Trauer wirklich zulassen müssen, wenn wir wieder bewusst leben wollen.

Mit einem alten Menschen stirbt die Vergangenheit, mit einem Kind stirbt die Zukunft.

„Bei älteren Menschen gibt es eine gemeinsame Vergangenheit. Übrig bleiben zahlreiche Erinnerungen an Erlebnisse, Gespräche, Momente des Verstehens und der Zuneigung. Es ist immer zu früh, aber es ist gut. Ganz anders ist es, wenn ein Baby stirbt. Nichts ist gut. Keine Erinnerungen an gemeinsam gelebtes Leben, keine Erinnerungen, die wir mit anderen Menschen austauschen können. Mit unseren Kindern sterben auch unsere Träume, Hoffnungen und Vorstellungen für unser weiteres Leben. Es stirbt ein Teil von uns.“ (aus „Gute Hoffnung– jähes Ende“ von Hannah Lothrop).

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 26.02.2019