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Anouk oder der Wert eines Lebens

 

Anouk, baby in Anenzephalie

Was macht den Wert eines Lebens aus?
Die Anzahl der Jahre, die es dauert?
Die Anzahl der Ziele, die in diesem Leben erreicht wurden?

Eines Tages musste ich darüber entscheiden.

"Ich mache mir ernsthafte Sorgen um den Kopf", sagte der Ultraschallspezialist, "Ihr Baby hat eine Anenzephalie, die schwerste Fehlbildung des Gehirns."
In Gedanken sah ich den Film unseres Familienlebens: drei kleine Kinder, die bereits viel Aufmerksamkeit fordern, und ein behindertes Baby. Termine bei ärzten und Therapeuten. Ein Auto, gross genug für den zukünftigen Rollstuhl.
"Und jetzt?" Ich war sicher, dass er mir jetzt von den Operationen und Therapien erzählen würde, die mein Baby heilen werden. "Ihr Baby wird kurz nach der Geburt sterben. Wir können nichts für es tun. Sie können immer noch abtreiben, wenn Sie es wünschen."

Was??? Wie kann das möglich sein? Fehlgeburten sind eine Realität, die ich zweimal erlebt hatte, aber sobald die 12. Schwangerschaftswoche überschritten ist, sollte doch alles in Ordnung sein, oder? Ich hatte eben gerade mein 22 Wochen altes Baby in meinem Bauch herumstramplen sehen, sah sein Herz schlagen, und über die Termine der letzten Wochen hatte ich das Wachstum meines Babys beobachten können.

Ich bin dankbar, dass ich mich nicht in diesem Moment des tiefsten Schocks entscheiden musste. Dass die Entscheidung schon vor Beginn der Schwangerschaft gefallen war, als mein Mann und ich darüber diskutierten, was wir tun würden, wenn wir eines Tages eine schlechte pränatale Diagnose erhielten. Obwohl wir nicht wussten, welche gesundheitlichen Probleme auf uns zukommen würden, trafen wir die grundsätzliche Entscheidung, dass wir das Leben jedes unserer Kinder wertschätzen wollten, ganz gleich, was man herausfinden würde.

Ich lehnte das Angebot des Arztes ab und sagte ihm, dass ich die Schwangerschaft fortsetzen möchte, um unserem Baby jeden Tag Leben und Liebe schenken zu können. Er akzeptierte meine Entscheidung, ohne zu widersprechen, gab mir aber seine Telefonnummer, damit ich ihn jederzeit anrufen könne, sollte ich Fragen haben.

Nicht jeder respektierte unsere Sichtweise. Zwei Wochen später war ich wieder in der Praxis meines Gynäkologen, der in der Zwischenzeit den Bericht des Spezialisten erhalten hatte. Er sagte mir, dass diese Schwangerschaft keinen Tag länger dauern solle, dass ich sie abbrechen und mit einem anderen Baby, das es wert ist, neu anfangen solle. In seinen Augen hatte mein Baby nicht mehr wert, als ein Regenwurm. Er hatte wohl noch nie etwas von nicht-direktiver Beratung gehört... Der einzige positive Aspekt des Termins war, dass ich erfahre, dass ich ein kleines Mädchen in mir trug.

Immer wieder muss ich Antworten auf die Frage: "Was ist das Leben meines Babys wert?" finden. Familie, Freunde, medizinisches Fachpersonal und sogar Menschen, die ich erst vor wenigen Augenblicken kennengelernt habe, "wissen", was ich tun sollte. Ich merkte jedoch, dass die Meinung Dritter nicht viel Gewicht hat, denn wir würden den Rest unseres Lebens mit unserer Entscheidung leben müssen, nicht sie.

Meine Tochter hatte sich durch die Diagnose nicht verändert. Sie war schon fast immer so, denn diese Fehlbildung tritt in den ersten Wochen nach der Empfängnis auf. Was sich geändert hatte, war die Art und Weise, wie sie jetzt gesehen wurde. Für meinen Mann und mich war sie unsere geliebte Tochter, die in mir heranwuchs, sich entwickelte und auf unsere Stimmen reagierte. Für unsere Kinder war sie ihre kleine Schwester, die nur für eine kurze Zeit bleiben würde. Für andere war sie einfach nur wertlos.

In den ersten Tagen nach der Diagnose kämpfte ich mit der Tatsache, dass ich über den bevorstehenden Tod unserer Tochter Bescheid wissen musste, mit der Verantwortung für das Leben meines Babys und mit dem Urteil der Menschen um uns herum. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, alles zu ignorieren und einfach die Schwangerschaft geniessen zu können?

Doch mit den Wochen, die vergingen, wurde ich immer dankbarer für die Möglichkeit, mich vorbereiten und die Zeit des Lebens unserer Tochter achtsam leben zu können.
Also beschlossen wir, das Beste aus jedem Tag zu machen, den wir mit ihr verbringen würden.

Zuerst bekam sie einen Namen: Anouk.

Wir versuchten, eine Bindung zu ihr aufzubauen, indem wir unseren Kindern vor dem Schlafengehen Bücher vorlasen und besondere Ausflüge unternahmen, wie z. B. in den Zirkus, auf den Jahrmarkt oder in die Berge.

Es war eine bitter-süsse Zeit. Süss, weil es in einer scheinbar hoffnungslosen Situation so viel Leben, Hoffnung und Liebe zu teilen gab. Bitter, weil wir zu oft feststellten, dass es das einzige Mal sein würde, dass wir dies mit Anouk erleben konnten.

Bei den regelmässigen Terminen mit dem (neuen) Gynäkologen konzentrierte sich der Arzt vor allem auf die Beantwortung meiner Fragen und gegen Ende der Schwangerschaft auf die Besprechung unserer Wünsche für Anouks Geburt und Leben. Das Konzept der "perinatalen Palliativmedizin" war in der Schweiz zu der Zeit noch gar nicht bekannt, aber mein Arzt tat genau das, was es beinhaltet: ein interdisziplinäres Netz von Fachleuten um uns herum zu schaffen und alle über unsere Entscheidungen zu informieren.

Meine Hebamme ihrerseits half mir, während der Wassergymnastikkurse für Schwangere eine "Oase der Normalität" zu schaffen; wie sehr ich diese wöchentliche Stunde genoss, in der ich mich einfach mit anderen Müttern über normale Dinge der Schwangerschaft unterhalten konnte.

Achtzehn Wochen nach der Diagnose, an ihrem Geburtstermin, wurde Anouk geboren. Die Schmerzen während der Geburt waren schier unerträglich. Es fühlte sich an, als ob der körperliche Schmerz durch die Angst verstärkt wurde, dass der Moment ihrer Geburt der Moment ihres Todes sein würde. Als sie sobald die Hebamme sie in meine Arme führt zu atmen beginnt hört die Welt um uns herum auf, sich zu drehen. Nichts anderes hat mehr Bedeutung.

Unsere Tochter ist geboren worden und sie lebte.

Ihr Kopf wurde von einer kleinen Mütze bedeckt, die ich für sie gestrickt hatte. Wir waren uns der Realität der Anenzephalie bewusst, aber in unseren Augen war Anouk einfach nur schön. Wir erkennen, dass es kein perfektes Gehirn braucht, um geliebt zu werden oder zu lieben.
Unsere Kinder kamen, um ihre kleine Schwester kennenzulernen, eine Begegnung, die sie nie vergessen werden; die Bilder von diesen Momenten sind unser grösster Schatz.

Es ist eine Zeit zum Feiern. Dank der Pränatal Diagnose lag der grösste Schock hinter uns. Wir konnten uns auf diese Zeit vorbereiten; die Freude, Anouk endlich in die Arme schliessen zu können, ist überwältigend.

Es war eine kostbare, aber kurze Zeit. Anouks Körper war nicht für die Ewigkeit gemacht; wir sahen es mit eigenen Augen. Als ihre Atmung immer langsamer wurde, konnten wir ihr sagen, dass wir bereit sind, sie gehen zu lassen. Sie atmete noch einmal und starb dann in unseren Armen. Wie die Flamme einer kleinen Kerze, die sanft erlischt, verliess ihre Seele ihren Körper, um zu ihrem himmlischen Vater zu gehen.
Die Erfahrung ihres friedlichen Todes gab mir in den kommenden traurigen Momenten Trost und Kraft.

Anouks Leben dauerte 40 Wochen in mir und 13 Stunden in unseren Armen.
Wertlos für viele, unbezahlbar für uns.

Ich war noch nie so dankbar für meine lebenden Kinder wie nach dem Tod von Anouk, denn ich weiss nun, dass nichts als selbstverständlich angesehen werden kann.

Die Trauer kam in Wellen, es gibt keine Abkürzungen, sie ist harte Arbeit. Mir wurde klar, dass ich auch um die beiden kleinen Babys trauern musste, die wir zu Beginn unserer Ehe durch Fehlgeburten verloren hatten. Als sie starben, sagte man mir, ich solle einfach weitermachen, ich würde ja andere Kinder bekommen. Natürlich habe ich noch weitere Kinder bekommen, aber die Wunde in meinem Herzen, die ihr Tod hinterlassen hat, verheilte nicht von allein. Genau wie bei Anouk musste ich ihre Existenz, so kurz sie auch war, wertschätzen und mich dem Schmerz über ihren Verlust stellen, bevor ich sie loslassen konnte.

Es war nicht zu spät, dies zu tun, und ich merkte, dass es mich befreite.

Es dauerte lange, bis wir uns bereit fühlten, es mit einem weiteren Kind zu versuchen. Diese letzte Schwangerschaft war eine emotionale Herausforderung für sich. Zum Glück hatte mein Gynäkologe Verständnis für mich, und als er mir den schönen runden Kopf auf dem Ultraschallbildschirm zeigte, fiel auch ihm ein Stein vom Herzen.
Trotz der Entwarnung des Arztes verliess mich die Angst, dass etwas schief gehen könnte, aber erst in dem Moment, in dem ich unser gesundes Baby in den Armen halten konnte.

Wenn man mich heute beim Smalltalk fragt, wie viele Kinder ich habe, sage ich meistens vier. Nicht, weil Anouk und die beiden Kleinen nicht wichtig wären, sondern weil ihre Bedeutung nicht davon abhängt, was andere denken. Und weil ein paar Augenblicke Smalltalk nicht ausreichen, um von all dem Schönen zu erzählen, das sie in unser Leben gebracht haben.

Monika Jaquier

 

 

Eine detaillierte Fassung von Anouk's Geschichte finden Sie hier.

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 16.01.2023