Umgang mit Anenzephalie in einer Zwillingsschwangerschaft
Anenzephalie ist nicht nur eine Diagnose. Es ist eine Reise durch
eine der wunderschönsten und zugleich schmerzhaftesten Erfahrungen
die man sich als Eltern nur vorstellen kann. Anenzephalie in einer
Zwillingsschwangerschaft zu erfahren bedeutet ganz
besondere Herausforderungen und einen Segen zu gleich. Eine Balance
zwischen Segen und Herausforderungen zu finden kann sehr schwierig
sein. Wenn Du über Anenzephalie in einer
Zwillingsschwangerschaft liest, hast Du wahrscheinlich einen sehr
schmerzlichen Grund dafür. Das tut mir sehr leid. Es zerreißt
mir das Herz, dass es andere Menschen gibt die sich auch mit diesem
Thema auseinandersetzen müssen. Aus diesem Grund möchte ich
euch ein paar meiner Gedanken zum Umgang und zur Bewältigung
dieser Erfahrung mitteilen.
Manchmal spendet es ein wenig Trost zu wissen, dass die verschiedenen
Emotionen die man durchlebt völlig normal sind.
Wir erfuhren die vorläufige Diagnose unserer Tochter Carys, etwa in
der 16 SSW. Die Woche darauf wurde der Befund bestätigt. Wir
waren am Boden zerstört. Den Verlust eines Kindes zu erwarten
und nicht mal die Chance haben zu dürfen es kennenzulernen, wäre
unter jedem Umstand entsetzlich. In Kombination mit der emotionalen
Achterbahnfahrt einer Zwillingsschwangerschaft war es für uns
noch überwältigender. Es sind so viele unterschiedliche
Faktoren in diese Erfahrung verflochten und wir haben die ganze
Schwangerschaft versucht diese zu sortieren und einen Sinn zu finden.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir letztendlich erfolgreich damit
waren.
In gewisser Weise ist es ein wenig einfacher Anenzephalie in einer
Zwillingsschwangerschaft zu verkraften… oder so würde man
zumindest denken. Letzten Endes ist es sehr wahrscheinlich, dass nach
der Geburt ein gesunder Zwilling im Kinderzimmer schlafen wird.
Es ist zwar wahr, dass ein gesunder Zwilling den Schlag ins Gesicht, den
diese Diagnose mit sich bringt, etwas dämpft, jedoch nicht den
Schmerz über den Verlust des anderen Zwillings mit Anenzephalie;
ganz im Gegenteil zu dem was viele denken.
Die Tiefe einer infausten Prognose in einer Schwangerschaft zu verstehen
ist sehr schwierig. Während man niemanden wünscht einen
solchen Schmerz zu erfahren, kann die Unkenntnis vieler zu sehr
schmerzhaften, jedoch meist gut gemeinten Kommentaren führen.
Egal ob Du Leuten denen Du während der Schwangerschaft begegnest
von der Diagnose deines Kindes erzählst oder nicht, Du wirst
trotzdem Kommentare zu hören bekommen die Dir einen Stich ins
Herz versetzen werden. „Zwillinge? Oh, da wirst Du aber beide
Hände voll zu tun haben!“ (Ja… darauf habe ich mich
gefreut.) „Ein Mädchen und Ein Junge? Wow, da hast Du ja
ausgesorgt und brauchst keine weiteren Kinder mehr bekommen.”
(Wenn Du bloß wüsstest…) Wenn Du Dich dazu
entscheidest den Leuten, die sich über Deinen wachsenden Bauch
erkundigen, über die infauste Prognose des einen Zwillings zu
erzählen, wirst Du vielleicht Kommentare wie diese zu hören
bekommen: “Oh…naja, dann hast Du wenigstens noch eins.“
(Ja, als ob es deshalb nicht weh tut?) „Vielleicht hat sich der
Arzt vertan.“ (Oh, wie ich mir das wünschte …aber
ich habe es selbst im Ultraschall gesehen) Ein Kommentar, welches ich
vom Hörensagen kenne, aber glücklicherweise nie selbst zu
hören bekommen habe, mag die Krönung sein: “Oh,
wenigstens weißt Du es bevor Du eine Bindung zu dem Kind
aufgebaut hast.“ (Es geht hier um mein Kind, nicht um einen
Hund!) Dies sind nur ein paar wenige Beispiele der vielen
herzzerreißenden Kommentare mancher Leute. Erfahrungsgemäß
meinen sie es gut, aber diese gut gemeinte Absicht ist nicht immer
hilfreich. Denk daran, dass es für die meisten sehr schwierig
ist eine passende Antwort auf diese zumeist sehr überraschende
Information über die infauste Prognose Deines Babys zu finden.
Es ist ein schwieriges, herzzerreißendes Konzept, denn
normalerweise denken wir ans Sterben nur bei alten Menschen. Nicht
bei jedoch Babys. Sich daran zu erinnern, kann helfen den Schmerz,
der durch solche Kommentare entsteht, zu lindern.
Körperlich bringt jede Zwillingsschwangerschaft immer weitere Risiken mit sich.
Es besteht ein größeres Risiko für frühzeitige
Wehen und Präeklampsie, die Möglichkeit des fetofetalen
Transfusionssyndrom (Zwillingstransfusionssyndroms) und andere
potenzielle Komplikationen. Daher werden Zwillingsschwangerschaften
in der Regel automatisch als Hochrisiko-Schwangerschaft eingestuft.
Aus eigener Erfahrung sind die Risiken bei einer Zwillingsschwangerschaft
mit Anenzephalie nicht sehr viel anders. Soweit ich weiß
besteht jedoch ein höheres Risiko für die Entwicklung von
Hydramnios (zu viel Fruchtwasser). Dies wiederum erhöht das
Risiko für frühzeitige Wehen, was auch bei einer
Einlingsschwangerschaft mit Anenzephalie passieren kann. Darüber
hinaus machte ich mir Sorgen, dass Carys nicht bis zur Geburt
überleben würde, was zu weiteren Herausforderungen für
ihren Bruder Paxton führen würde. Unser Arzt, welcher auf
Hochrisiko-Schwangerschaften spezialisiert war, meinte jedoch dass
sie sich sehr wahrscheinlich ganz normal entwickeln würde,
zumindest bis ins dritte Trimester. Für mich war es hilfreich
mir ins Gedächtnis zu rufen, dass auch in einer „normalen“
Schwangerschaft ein Zwilling plötzlich absterben konnte und dass
die Medizin mittlerweile Mittel und Wege gefunden hat, einen
positiven Ausgang für den anderen Zwilling zu erreichen.
Die emotionalen Auswirkungen die solche Sorgen mit sich bringen, konnte
ich jedoch nicht ignorieren. Wenn ich mir Sorgen um unseren Sohn
machte, dass seine Schwester es nicht bis zur Geburt schaffen könnte,
fühlte ich mich schuldig, denn es machte den Anschein, dass ich
ihr weniger Aufmerksamkeit schenkte (obwohl ich wusste dass dies
nicht stimmte). Ich empfand es als eine Herausforderung meine
mütterlichen Instinkte auszubalancieren - hinsichtlich beide
Kinder beschützen zu wollen und nicht eines von beiden zu
bevorzugen. Ich wollte Carys nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, weil
ich es Paxton gegenüber als nicht fair empfand. Gleichzeitig
wollte ich aber auch keinen Moment mit ihr vergeuden lassen, da ich
ja wusste, dass sie nicht lange bei mir bleiben würde. Für
jemanden der nicht in meinem Schuhen steckt, mag dies albern klingen.
Wie könnte ich einem von beiden mehr Aufmerksamkeit schenken,
wenn sie doch beide noch in meinem Bauch waren? Irgendwie schienen
diese Gedanken auch für mich manchmal albern, aber ich kannte
meine eigenen Gedanken und die Bindung die wir zu unseren Babys
aufbauen beginnt ja lange vor der Geburt.
Die gleichen Schuldgefühle übertrug ich auch in andere Bereiche
während der ganzen Schwangerschaft. Ich konnte nicht darüber
sprechen welche Pläne ich für Paxton hatte, wenn er grösser
war. Es tat weh darüber zu sprechen, was ich ihm beibringen und
zeigen wollte oder wo ich mit ihm hinfahren wollte. Es tat weh, weil
er zusammengekuschelt mit seiner Schwester in meinem Bauch lag, mit
der ich all diese Dinge nie machen werden könnte. Es war
schmerzhaft die Kinderzimmerpläne umzugestalten und nur ein
Babybett auszusuchen. Es war schwer einen Baby Shower (in den USA
gebräuchliches Geschenke-Fest vor der Geburt eines Babys) für
ihn alleine zu haben (und in Wal-Mart bin ich im Gang mit den
Babyartikeln zusammengebrochen). Ich hatte ständig das Gefühl
eine schlechte Mutter Carys gegenüber zu sein; als würde
ich sie irgendwie ignorieren. Für Paxton kaufte ich keine
lustigen Spielzeuge als ich noch schwanger war. Gegen Ende der
Schwangerschaft kaufte ich mit den Gutscheinen, die ich zum Baby
Shower bekommen hatte, das Nötigste. Ich hatte keine Lust
einfach nur so Dinge zu kaufen. Ich konnte nicht für beide
einkaufen, so wollte ich lieber für keinen der beiden einkaufen.
Irgendwann musste ich akzeptieren, dass es ok war unterschiedliche Hoffnungen
und Träume für jedes Kind zu haben. Es war ok Pläne
für Paxton zu machen. Ich fand Trost in meinem Glauben an und in
Gott. Ich glaube, dass Gott beide meiner Babys bewusst geschaffen hat
und ein Sinn dahinter steckt. Und dass er für meine Tochter
genauso einen Plan hatte wie für meinen Sohn. Ich fand Trost
darin zu wissen, dass Carys einen Platz im Himmel haben würde
und dass sie die Dinge die ich ihr hier auf Erden gekauft hätte
dort nicht brauchen würde. Ich erinnere mich daran, als ich in
einem Geschäft Babykleidung für Mädchen sah und mich
plötzlich ein inneres Gefühl von Frieden überkam. Es
war so eindeutig für mich, dass auf Carys viel schönere
Dinge warteten, als diese zerknitterten Kleidern mit kleinen
Schönheitsfehlern. Das hat mich sehr getröstet.
Letzten Endes ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass es ok ist Dinge so
zu machen wie sie für Dich richtig sind. Es gibt keine
Schritt-für-Schritt-Anleitung wie man mit dem bevorstehenden
Verlust seines Babys am besten umgeht. Die Bücher vom Typ „Was
man erwarten sollte“, sagen einem meist nicht wirklich welche
Emotionen oder Komplikationen zu erwarten sind. Es ist ok, wenn Du
Dir erlaubst auf Deine eigene Art zu trauern. Wenn Du Trost darin
findest, für beide Kinder Babyartikel zu kaufen, dann ist das
ok. Wenn Du lieber damit warten willst bis nach der Geburt, dann ist
das auch ok. Es ist ok, sich auf die Zukunft mit dem einem Kind zu
freuen und gleichzeitig den bevorstehenden Verlust des anderen Kindes
zu betrauern. Freude, Frieden, Schmerz und Trauer können in
einer eigenartigen Art und Weise koexistieren. Ich persönlich
denke, dass Gott uns genau das geben wird was und wann wir es
brauchen, wenn wir uns nur auf Gott verlassen – und es gab nie
eine andere Zeit in meinem Leben in der ich fühlte ich sollte
mich mehr auf Gott verlassen als jetzt.
Um auf den Punkt zu kommen, wir wissen dass es keine Heilung für
Anenzephalie gibt. Wir können die Diagnose nicht ändern.
Aber wir können wählen wie wir damit umgehen, auch wenn
dieser Gedanke in den ersten Tagen nach der Diagnose nicht gerade
tröstlich ist. Ich weiß, für mich war dieser Gedanke
anfänglich auch kein Trost; Ich wollte einfach nur hören,
dass mein süßes Baby fehldiagnostiziert war und es
überleben würde. Natürlich wusste ich, dass eine
Fehldiagnose sehr unwahrscheinlich war.
Wenn bei deinem Baby Anenzephalie diagnostiziert wurde hast Du auf jeden
Fall eine Wahl wie Du mit dieser Diagnose umgehst. Du kannst Dich
dagegen wehren, schreien und treten, aber es wird leider nicht
weggehen. Wenn die Diagnose gemacht wurde, solltest Du sie
akzeptieren, auch wenn Du Dich hilflos fühlst…egal wie es
sich manchmal anfühlt, Du kannst es schaffen.
Suche Dir Unterstützung wo Du nur kannst. Ich kann Dich nur darin
bestärken einer Anenzephalie Selbsthilfegruppe beizutreten
(z.B. auf facebook);
es ist sehr hilfreich mit anderen zu sprechen die bereits in Deiner Situation waren.
Denke auch an Deine spirituelle Gesundheit. Dein spirituelles Befinden ist
ein großer Teil Deines Wohlbefindens und wird häufig nicht
genug beachtet, dabei ist es sehr wichtig auf dieser Reise.
Es gibt keinen falschen Weg mit der Trauer umzugehen, solange Du nicht
versuchst sie einfach unter den Teppich zu kehren. Wenn Du bislang
noch keinen Therapeuten hast, ist jetzt ein guter Zeitpunkt einen zu
finden – besonders wenn Dich Deine Trauer so einnimmt, dass Du
es schwierig findest von Tag zu Tag zu funktionieren. Therapeuten
sind geschult einen solchen Prozess den Du gerade durchmachst zu
begleiten und können Dir helfen Deine Gedanken und Gefühle
zu ordnen und Deine Erfahrung zu verarbeiten. Sie sind da um Dich zu
unterstützen. Deine psychische Gesundheit und Dein spirituelles
Befinden zu pflegen ist genauso wichtig wie Deine körperliche
Gesundheit.
Ich weiß, dass es am einfachsten erscheint, einfach abzuschalten
und keine dieser drei zu pflegen. Aber Du kannst es schaffen, auch
wenn es sich manchmal so anfühlt als könntest Du es nicht
schaffen. Du kannst es schaffen!
Keri Kitchen
M.Ed., L.P.C.C., N.C.C. (aus dem Amerikanischen übersetzt)
Erfahrungsberichte von Zwillingsschwangerschaften:
Anna und Tess
Christopher und Harry monochoriale Zwillinge
Hope und Abigail
Jason und Carson eineiige Zwillinge, monochorial-monoamniote Zwillinge
Jonathan und Jordan eineiige Zwillinge, monochorial-diamniot, eine Plazenta
Marcel und Maximilian zweieiige Zwillinge
Matthew und Noah monochorial-monoamniote Zwillinge, beide hatten Anenzephalie
Michaela Ann und Eric zweieiige Zwillinge
Mike Jeremi und Joey
Rabea und Raphaela zweieiige Zwillinge
Samuel und Jonathan zweieiige Zwillinge
Sarah und Philipp zweieiige Zwillinge
Sina und Max-Ihno zweieiige Zwillinge
Stella und Medeia
Trauerbewältigung nach dem Verlust eines neugeborenen Zwillingskindes :
Leitfaden für medizinische Berufe
Familien, die ein Baby während einer Zwillings-Schwangerschaft1 verloren haben, stehen
der schwierigen Aufgabe und ambivalenten Gefühlen gegenüber, indem sie einerseits den
Verlust eines Kindes verarbeiten müssen, während sie oft im selben Moment erwartungsvoll
der Prognose gegenüberstehen, dass ein Baby überleben wird. Untersuchungen haben
gezeigt, dass medizinische Fachkräfte häufig das Gefühl haben, ihnen fehle es an
Selbstvertrauen, um Eltern in dieser Situation zu unterstützen. Die große Mehrheit der
Mitarbeiter, die im Bereich der Frühgeborenen-Versorgung oder Geburtshilfe tätig ist, findet
sich in der Situation wieder, Eltern Beistand zu leisten, die sich in irgendeiner Weise mit dem
Verlust nach einer Zwillings-Schwangerschaft auseinanderzusetzen hatten, obwohl die
wenigsten von ihnen für die Trauerbegleitung ausgebildet worden waren. Das Problem
besteht gleichermaßen sowohl bei Personal, das auf Wochenbettstationen als auch in der
Erstversorgung tätig ist. Dieser Leitfaden soll Mitarbeitern als praktische Hilfestellung
dienen, um Eltern in dieser Situation sowohl vor, als auch während und nach der Entbindung
Beistand leisten zu können. Die Grundlagen hierfür sind Ergebnisse einer umfassenden
qualitativen Studie, in der die Erfahrungen von Eltern, welche die Bewältigung ihres
Verlustes nach einer Zwillings-Schwangerschaft durchlebt haben, untersucht wurden.
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 14.01.2023