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Samuel und Jonathan

 

Samuel, baby in Anenzephalie

01.02.2003

Jedes Ereignis, alles auf der Welt hat seine Zeit:
Geborenwerden und Sterben,...
Weinen und Lachen,
Klagen und Tanzen,...
Umarmen und Loslassen.

Die Bibel, Prediger 3.1-5

Vor genau einem Jahr, im Juli 2002, hatten wir erfahren, dass ich schwanger war. Schwanger!!! Endlich.

Unser Weg dorthin war aufreibend und beschwerlich. Nachdem sich unser Kinderwunsch nicht erfüllen wollte, suchten wir medizinischen Rat. Schnell war klar, dass wir auf normalem Wege niemals zu Nachwuchs kommen würden. Nur durch eine aufwendige Methode der künstlichen Befruchtung – bei der die Eizelle befruchtet wird, indem ein Spermium direkt injiziert wird (ICSI) – könnten wir noch zu unserem Wunschkind kommen.

Der Wunsch nach einem Kind war so groß, dass wir alles dafür getan hätten und so begann eine belastende Zeit der Behandlung.

Zur Stimulation mehrer Eizellen musste ich täglich Hormone spritzen. Als die Eizellen weit genug gereift waren, wurde der Eisprung ebenfalls durch eine Hormonspritze ausgelöst und die Eizellen dann unter Vollnarkose entnommen. Nun wurden die Spermien injiziert und es folgten zwei Tage des Wartens und Hoffens, ob die Eizellen befruchtet werden und sich richtig teilen. Dann wurden jeweils zwei bis drei Embryonen zurück in die Gebärmutter gesetzt. Die darauffolgenden zwei Wochen waren immer ein einziges Zittern und Bangen, ob sich die ersehnte Schwangerschaft eingestellt hat oder ob die Periode doch wieder einsetzt.

Anfangs sah es so aus, als ob wir zu den absoluten Glückspilzen gehörten, denn schon bei dem ersten Behandlungsversuch wurde ich schwanger; die Wahrscheinlichkeit dafür lag bei etwa 20%. Wir waren überglücklich. Leider hielt dieses Hochgefühl nur bis zur siebten Woche an, dann bekam ich Blutungen. Obwohl ich sofort stationär ins Krankenhaus aufgenommen wurde und die Blutungen zum Stillstand kamen, nahm das Schicksal seinen Lauf. In der achten Schwangerschaftswoche konnte bei unserem Kind kein Herzschlag mehr festgestellt werden. Eine Ausschabung musste vorgenommen werden.

Ich war total am Boden zerstört. Obwohl es ja noch so winzig war, hatte man sich doch schon so auf dieses Kind gefreut und sich als glückliche Eltern gesehen. Es folgt eine unheimlich depressive Zeit; mir war als ob ich in einem tiefen schwarzen Loch versunken wäre. Das Buch "Gute Hoffnung, jähes Ende" von Hannah Lothrop (siehe Literaturtips) hat mich wieder etwas auf die Füße gebracht. Ich habe mich beim Lesen verstanden gefühlt und meine Trauer um dieses Kind nicht verdrängt, sondern zugelassen.

Nach einiger Zeit ging es mir wirklich besser und ich war auch bezüglich des Kinderwunsches wieder optimistischer. So wagten wir uns an den zweiten Versuch. Wieder zeigt der Schwangerschaftstest ein positives Ergebnis – doch jetzt war statt der großen Freude doch Angst bzw. Panik vor einem neuen Verlust da. Prompt setzte schon nach wenigen Tagen eine leichte Blutung ein – ausgerechnet an meinem 31.Geburtstag.

Der Besuch bei unserem Arzt ergab, dass es sich wahrscheinlich um einen "Streifschuss" gehandelt hatte. Der Embryo war wohl angewachsen, wurde dann aber doch noch einmal abgestoßen. Das war der nächste Tiefschlag. Wir waren traurig und enttäuscht und die Angst, vielleicht überhaupt keine Kinder mehr zu bekommen, wurde immer größer. Zudem nagten Zweifel an uns, ob etwa irgendetwas bei uns nicht in Ordnung war, so dass es immer wieder zum Abstoßen eines Babys kommen würde?! In dieser Zeit war ich erstmals zu einem Gespräch bei Frau B., einer sehr netten Psychologin. Der Kontakt zu ihr hat mir sehr gut getan und sie hat uns auch weiterhin immer wieder zur Seite gestanden.

Es folgten weitere Behandlungen, jedoch erst beim fünften Versuch hat es noch einmal geklappt. Endlich schwanger!!! Dazu konnte sofort ein sehr hoher HCG-Wert festgestellt werden, was bedeutete, dass es sich wohl nicht um einen neuen Streifschuss handelte. Wir waren verhalten freudig.

Um die Schwangerschaft zu unterstützen wurden mir weiterhin jede Woche Hormone gespritzt und per Ultraschall kontrolliert ob alles in Ordnung war. Ich war wahnsinnig ängstlich, dass wieder etwas schief geht und vor jeder Untersuchung war mein Blutdruck auf 180. Schon zwei Wochen nachdem die Schwangerschaft festgestellt worden war, konnte der Arzt sehen, dass wir Zwillinge erwarteten. Wie waren wir glücklich! Erst diese langen Anlaufprobleme und dann gleich zwei Kinder – die Familienplanung schien uns perfekt.

Irgendwie wurde ich auch ein bisschen gelassener. Das lag zum einen daran, dass ich – seit wir wussten, dass wir die künstliche Befruchtung brauchen – immer vor meinem geistigen Auge nie nur ein Kind, sondern immer gleich mehrere auf einmal gesehen habe (eine "Nebenwirkung" der Behandlung, derer wir uns bewusst waren und die wir gerne in Kauf genommen hätten!). Dieser Wunschgedanke schien nun wahr zu werden! Zum anderen hatte ich den irrationalen Gedanken, dass es bei zwei Embryonen wohl wenigstens einer schaffen würde...

Die ersten Wochen verliefen gut und ich wurde von der Kinderwunschpraxis zu meinem Frauenarzt Dr. L. überwiesen. Weiterhin wurde jede Woche ein Ultraschall gemacht und mir Hormone gespritzt. Die beiden Fruchthöhlen mit den Embryonen entwickelten sich gleich schnell. In der zehnten Woche teilte mir Dr. L. mit, dass eines der beiden Babys etwas im Wachstum zurückbleibe, in diesem frühen Schwangerschaftsstadium könne durchaus noch eines der beiden Kinder absterben. Zudem sei bei diesem Baby das Köpfchen nicht ganz so schön geformt wie bei dem anderen Baby. Zum jetzigen Zeitpunkt könne er es aber noch nicht genau sagen, vielleicht wäre es ja auch nur ein Projektionsfehler. Da ich meinen Arzt als sehr sensiblen Menschen kenne, war ich sofort beunruhigt. Wenn er nicht einen berechtigten Verdacht gehabt hätte, hätte er mich doch niemals mit so einer Aussage verfrüht belastet! Der nächste Ultraschalltermin wurde schon vier Tage später vereinbart.

Die nächsten Tage hatten wir uns oft gefragt, ob denn der "Kleine" – so nannten wir es damals – hoffentlich in Ordnung wäre und es auch schaffen würde. Ich hatte riesige Angst davor, dass bei ihm vielleicht wieder keine Herzaktivität mehr festgestellt werden würde. Der Verlust von unserem ersten Kind stand uns noch deutlich vor Augen. In der Zeit betete ich oft, dass das Baby durchkommen sollte.

Meine Gebete wurden zwar erhört – jedoch auf eine andere Weise, wie ich mir damals vorstellen konnte.

Zum nächsten Ultraschalltermin gingen wir wieder zu zweit; mein Mann hat mich zu fast jedem Termin begleitet. Leider hatte mein Arzt keine guten Nachrichten für uns: Er sei sich ganz sicher, dass mit einem der Babys etwas nicht stimme – es sehe aus wie Anenzephalie.

Ich wusste sofort, was das bedeutet. Durch meinen Beruf im pharmazeutischen Bereich war ich doch etwas mit medizinischer Literatur vertraut und hatte schon einmal das Bild eines Babys mit Anenzephalie gesehen.

Da der Embryo weiter im Wachstum zurückblieb, meinte mein Arzt, dass er vielleicht noch abstirbt, was in diesem Fall wohl das Beste wäre.

Wir waren zutiefst geschockt und traurig. Viele Fragen sind uns durch den Kopf gegangen. Was passiert, wenn dieses Kind nicht abstirbt? Wie wird die Schwangerschaft dann weitergehen? Wird das andere Baby dadurch beeinträchtigt?

Unser Arzt war sehr verständnisvoll und hat sich viel Zeit genommen. Er meinte, dass wir zur endgültigen, eindeutigen Diagnosestellung in die Uniklinik müssen, da er sich noch nicht 100%ig sicher sei. Sollte das kranke Kind weiterwachsen gebe es sicher auch "Lösungen", jedoch würden wir darüber in der Uniklinik beraten.

Nur wenige Tage später waren wir zum Ultraschall in der Uniklinik. Leider wurde die schlimme Diagnose unseres Frauenarztes dort bestätigt, jedoch konnte zu dem frühen Zeitpunkt (11.SSW) nicht eindeutig festgestellt werden, ob unser Baby an Anenzephalie – was mit dem Leben unvereinbar wäre – oder Holoprosencephalie erkrankt war. Im letzteren Fall hätte die Schädeldecke des Babys "nur" Löcher, was jedoch zu einer Fehlentwicklung des Gehirns geführt hätte, wobei das Kind eine Lebenserwartung von mehreren Jahren gehabt hätte – jedoch schwerstbehindert gewesen wäre.

Wir waren schockiert. Das Leben mit einem schwerstbehinderten Kind konnten wir uns nicht vorstellen. Die ärzte klärten uns über die Möglichkeit eines selektiven Fetocids auf. Dabei würde unser krankes Baby durch eine Kaliumspritze ins Herz abgetötet. Das Risiko, das gesunde Kind dabei durch eine Fehlgeburt zu verlieren, haben sie uns mit 30% beziffert. Mir wurde ganz schlecht vor Angst.

Da eine eindeutige Diagnose auch jetzt noch nicht gestellt werden konnte, sollten wir in zwei Wochen nochmals kommen. Dann sollte Professor T. mich untersuchen, der wohl am meisten Erfahrung hatte – außerdem wären die zwei Babys dann auch schon größer und besser zu beurteilen.

Die darauffolgenden Tage wurden für uns zum Horrortrip. Wir versuchten stundenlang uns übers Internet über Holoprosencephalie, Anenzephalie und Fetocid zu informieren. Dabei sind wir auch schon auf diese anencephaly.info Seite gestoßen. Die Informationen über Holoprosencephalie waren nur in Englisch verfügbar. Uns reichte das, was wir verstanden haben und die schockierenden Bilder, die wir gesehen haben. Ein schwerstbehindertes Kind, welches eventuell niemals zu einer Bewegung oder irgendeiner Reaktion fähig gewesen wäre, etliche Jahre aufzuziehen erschien uns unmöglich. Es ging uns unendlich schlecht. Außerdem wollten wir ja auch das andere Baby nicht gefährden. Allein bei dem Gedanken an einen Fetozid wäre ich fast ausgeflippt. Bei unserem Glück würde bestimmt das zweite Baby ebenfalls verloren gehen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen: Wie sehr hatten wir uns Kinder gewünscht, wie oft darum gebetet! Und jetzt sollte einer unserer Zwerge so schwer geschädigt sein?! Allein schon diese Tatsache war unfassbar grausam für uns.

Wie sollten wir nun eine Entscheidung finden, ob es abgetrieben werden soll? Diese "Wahl" zu haben war unendlich belastend. Der Gedanke, eines unserer Wunschkinder bewusst zu töten war schrecklich. Ich konnte die ganze Zeit nur noch heulen. Gedanken wie "Gott straft uns vielleicht für so einen Schritt, indem er uns das zweite Kind auch noch nimmt" kreisten in meinem Kopf. Wir waren verzweifelt.

Schließlich haben wir uns nochmals mit Frau B. getroffen und uns mit ihr beraten. Nach langem Ringen war uns doch klar, dass wir trotz unseres Kinderwunsches mit solch einem schwerbehinderten Kind nicht glücklich wären. Jedoch war auch diese Entscheidung noch zwiespältig. Gefühlsmäßig hätten wir lieber nicht bewusst eingegriffen, aber blieb uns denn eine andere Wahl?

Gedanklich hatten wir uns also für den Fetozid entschieden, es sei denn, bei unserem zweiten Ultraschalltermin könnte eine 100%ige Diagnose für Anenzephalie gestellt werden. Aber welcher Arzt gibt einem schon eine 100%ige Diagnose?

Mein Frauenarzt hat unsere Entscheidung als richtig empfunden und uns geraten, auf alle Fälle eine Fruchtwasseruntersuchung bei dem anderen Kind durchführen zu lassen. Er hat sich dann dafür stark gemacht, dass wir einen schnelleren Termin bei Professor T. bekommen – die Zeit drängte ohnehin schon, denn je früher der Fetocid gemacht würde, desto besser wären die Chancen.

Wir waren zum zweiten Termin in der Uniklinik. Nachdem der Professor mich untersucht hatte, erklärte er uns, dass er sich 100%ig sicher sei, dass das kranke Kind an Anenzephalie leide. Der Kopf des Babys höre unmittelbar über den Augenbrauen auf. Auf unsere Frage, was wir denn jetzt tun sollten, antwortete er – falls wir für die Schwangerschaft nichts riskieren wollten, wäre es am besten, überhaupt nichts zu unternehmen. Die Risiken für unser gesundes Kind bei einem Eingriff verloren zu gehen wären in unserem Fall 5-10% – auch das war uns zu hoch!

Er erklärte uns, dass das kranke Kind eine Lebenserwartung von wenigen Stunden bis Tagen habe und dass seine Erkrankung mit dem Leben unvereinbar sei.

Wir waren in dem Moment unsicher, wie wir uns jetzt entscheiden sollten.

Die folgenden Worte des Professors habe ich noch so gut im Ohr, sie haben sich fast in mein Gedächtnis eingebrannt: "Es ist nicht so, dass da ein Monster in Ihnen wächst oder ein hirnloses Wesen. Dieses Kind hat ein Gehirn, dass aber leider offen im Fruchtwasser liegt und davon zersetzt wird. Solch ein Kind hat genauso viel Würde wie jeder andere Mensch. Man kann es genauso wie jedes andere Kind in den Arm nehmen."

Damit war die Entscheidung gefallen. Wir würden das kranke Kind "mitaustragen". In dem Moment dachten wir nur daran, nichts zu tun, was das gesunde Kind irgendwie gefährden könnte. Da das zweite Baby so normal aussah – wie uns der Professor bestätigte – entschieden wir uns gegen einen Fruchtwassertest. Schließlich waren beide Kinder getrennt und die Erkrankung des Einen hatte ja nichts mit dem Anderen zu tun. Für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft wurde uns noch erklärt, dass, falls das anencephale Kind vorzeitig sterben sollte, was durchaus geschehen könnte, dem zweiten Kind und mir nichts passieren würde, weil sich das Baby mumifizieren und zusammenplätten würde.

Es mag paradox klingen, aber wir waren trotz der vernichtenden Diagnose für eines unserer Kinder erleichtert, dass uns die Entscheidung abgenommen war und wir es nicht bewusst abtöten würden.

Unser Frauenarzt Dr. L. war erstaunt über unsere neuerliche Entscheidung, die Schwangerschaft einfach so "weiterlaufen" zu lassen. Jedoch respektierte er dies und wollte uns weiter bestmöglich betreuen. Vor etlichen Jahren hatte er den selben Fall einer Zwillingsschwangerschaft. Das Kind mit Anenzephalie hatte damals den Kaiserschnitt nicht überlebt.

Nach dieser emotional so belastenden Phase wollten wir noch ein paar Tage nach Langeoog fahren, um etwas zu entspannen. Leider bekam ich schon in der ersten Nacht von unserem Urlaub starke Blutungen und musste mit dem Rettungsboot ans Festland gebracht werden. Komischerweise war ich die ganze Zeit ganz ruhig, obwohl ich zuvor immer gedacht hatte, wenn ich wieder Blutungen bekommen würde, würde ich ausrasten. Irgendwo tief in mir war mir klar, dass ich sowieso überhaupt keinen Einfluss darauf habe, wie es weitergeht. Das liegt allein in Gottes Hand. Es war ja auch noch die Möglichkeit, dass das kranke Baby doch noch verloren geht (so hatte unser Arzt uns zuvor schon erklärt und auch im Rettungswagen wurde ich sofort gefragt, ob beide Kinder "in Ordnung" seien). Unsere Erleichterung war groß, als beim Ultraschall beide Kinder lebten. Dann lag ich etliche Tage an der Nordseeküste in einem Krankenhaus bis die Blutungen aufgehört hatten und wir die 850 km weite Heimreise antreten konnten.

Trotzdem ich mich sehr schonte, bekam ich erneute Blutungen und musste wieder stationär aufgenommen werden. Unsere Nerven begannen blank zu liegen. Die Angst vor einer neuen Hiobsbotschaft beim nächsten Ultraschall und vor erneuten Blutungen machten uns ziemlich nervös und mürbe. Zum großen Glück stabilisierte sich jedoch mein Zustand. Als meine Angst vor einer erneuten Fehlgeburt langsam abfiel und ich mich etwas sicherer und besser fühlte, war es, als ob ich jetzt erst so richtig begriff, was überhaupt los war.

Ich trug zwei Kinder in mir und eines würde unweigerlich sterben.

Meine verstärkte Recherche im Internet zum Thema Anenzephalie begann. Ich habe sämtliche Erfahrungsberichte, Infos, Tipps für die Erinnerungen etc, etc... nur so verschlungen. Oft habe ich beim Lesen nur geheult und geheult. Unser krankes Kind ist für mich immer realer geworden, es "lief" eben nicht nur so mit – das war am Anfang. Ich war hin- und hergerissen zwischen Angst und Entsetzen, was da auf uns zukommen würde und Freude darüber, dass wir wahrscheinlich ein gesundes Kind bekommen würden. Nachts konnte ich kaum mehr schlafen, so sehr habe ich ständig Gedanken gewälzt. Am schlimmsten war es, als ich um das Passwort für die Fotos der Missbildungen gebeten hatte. Bis ich das hatte, und endlich die Bilder ansehen konnte, hatte ich ziemlich schreckliche Vorstellungen davon, wie unser Kind vielleicht aussehen würde. Bis dato hatte ich ja nur ein Bild eines anencephalen Babys in einem medizinischen Buch gesehen, jedoch war das Kind schon tot, wahrscheinlich sogar konserviert. Als das Passwort dann endlich eingetroffen war, und ich die Bilder ansehen konnte, war ich zu meiner Verwunderung eher erleichtert. Keines der Babys sah so schlimm aus, wie ich es mir meiner Phantasie vorgestellt hatte.

Zu meinem großen Glück habe ich über die anencephaly.info Seite Kontakt zu Renate bekommen, der schon bald durch einen regen eMail-Wechsel zu einer richtigen Freundschaft wurde. Das Zuhören und Erzählen von jemandem, der selbst betroffen war und ist, hatte für mich unschätzbaren Wert und hat mich irgendwie auch immer wieder aufgebaut – so schlimm die ganze Situation auch war.

Lange Zeit hatte ich die größte Angst, dass ich unser Kind nicht in Liebe annehmen kann, weil ich vielleicht zu geschockt über sein Aussehen sein würde. Was wenn ich dazu nicht fähig bin, und es doch nur ein paar Stunden bei mir ist? Bei einer Ultraschalluntersuchung haben wir das Köpfchen genau gesehen. Das Gesicht konnte man erkennen, aber der Kopf hörte wirklich über den Augen auf und fiel bis zum Nacken einfach schräg ab – es fehlte der komplette Hinterkopf! Wir waren sehr traurig und geschockt dies so zu sehen.

Vielleicht war es auch gut für uns, die harte Realität schon so früh zu erkennen. Das hat uns darauf vorbereitet, was kommen würde. In dieser Zeit habe ich sehr oft gebetet, dass es mir möglich sein würde, dieses Baby in Liebe anzunehmen. Auch für das Geschwisterchen habe ich natürlich gebetet, dass es hoffentlich gesund zur Welt kommen würde. Bei den Untersuchungen wurde uns immer gesagt, dass es gut aussehe und wie ein Einling wächst. Das kranke Baby war nur etwas kleiner.

Meine Schwangerschaft verlief einigermaßen normal. Das Wechselbad der Gefühle zwischen unendlicher Trauer und Vorfreude auf unsere beiden Kinder hielt an und war oft nur schwer zu ertragen.

Die Reaktionen aus unserer Umgebung waren gespalten. Es war schon schlimm genug, jedem nach der Ankündigung, dass wir Zwillinge erwarteten, sagen zu müssen, dass eines der beiden Kinder nicht überleben würde. Nach anfänglichem Zögern haben wir uns für totale Offenheit entschieden und den Leuten gesagt, was mit unserem Kind nicht in Ordnung ist. Leider mussten wir erleben, dass sehr viele Menschen mit solch einer schwierigen Situation überhaupt nicht umgehen konnten – auch "Freunde" von denen man Verständnis und Trost erwartet hätte, zogen es vor, uns auf unser krankes Kind lieber nicht anzusprechen. Oft spürten wir zwar Betroffenheit, jedoch wurde diese uns gegenüber nicht geäußert.

Die Ignoranz bezüglich unseres kranken Kindes – so hatte ich es zumindest empfunden – hat mir sehr wehgetan. Als ob es irgendetwas verbessert hätte, einfach nicht darüber zu sprechen! Es tat auch doppelt weh, wenn es schon jetzt totgeschwiegen wurde, wo es doch sowieso bald sterben würde. Denn schließlich lebte es da noch in mir!

Manchmal fühlten wir direkt Angst und Unsicherheit der anderen, wie sie mit uns umgehen sollten. Das hatte uns umso mehr verwundert, da wir eigentlich recht offen und normal (soweit dies möglich war) über alles gesprochen hatten. Scheinbar sind Krankheit, Tod und Trauer doch nach wie vor Tabuthemen, über die man lieber nicht spricht. Leider ist damit den Betroffenen überhaupt nicht geholfen.

Auf der anderen Seite hatten wir jedoch auch – und dafür bin ich jetzt noch dankbar – liebevolle Unterstützung, vor allem durch meine Familie, meine beste Freundin Petra mit ihrer Familie, Frau B. und Renate. Die vielen Gespräche und das Ausheulen bzw. miteinander heulen haben immer wieder gut getan. Auch hatten wir Trost und Zuspruch von Leuten bekommen, mit denen wir eigentlich nicht so viel zu tun hatten, die jedoch von unserem Schicksal wussten. Wir waren dankbar für jeden, der die Größe besessen hatte, auch über unser krankes Kind zu sprechen. Es tat uns nicht weh, darüber zu reden – im Gegenteil, in unseren Gedanken war es ja sowieso ständig da.

In der 20.SSW hatten wir erfahren, dass wir zwei Bübchen erwarteten. Wir fanden es schön, dass man das Geschlecht feststellen konnte, denn wir wollten die Beiden gerne schon mit ihrem Namen anreden. Irgendwie machte sie das noch realer und persönlicher. Wir hatten uns für das gesunde Kind den Namen Jonathan ausgesucht, was "Geschenk Gottes" bedeutet. Für unser krankes Kind wollten wir ebenfalls einen biblischen Namen – und haben uns für Samuel entschieden; das bedeutet "von Gott erhört".

Als wir wussten, dass wir zwei Buben bekommen, wollte ich unbedingt einiges für die beiden vorbereiten. Besonders die Dinge, die Samuel bekommen sollte, waren mir ein Anliegen. Ich war so traurig, dass wir für ihn nichts herrichten und nichts besorgen mussten. Es war ein ganz komischer Gedanke, dass wir ihn nicht versorgen und großziehen würden können. Deswegen wollte ich ihm wenigstens ein paar schöne Dinge mit auf den Weg geben. Das war so der Wunsch, ihm auch noch etwas Gutes tun zu wollen.

Also hatte ich ihm einen ganz schönen Strampelanzug in Größe 44 mit Pullover und Söckchen gekauft. Ich rechnete damals schon damit, dass die Zwillinge bestimmt zu früh geboren werden, daher kaufte ich einfach die kleinste Größe. Für alle beide habe ich noch je einen kleinen Teddy und ein Schmusepüppchen gekauft. Auf der einen Seite musste ich diese Dinge tun und die Vorbereitungen haben mir irgendwie gut getan; andererseits war es sehr schlimm, die netten Sachen dann anzusehen und zu wissen, dass Samuel darin beerdigt werden würde.

Ich habe für unsere Buben auch noch goldene Kettchen mit Schutzengelanhängern besorgt – dadurch haben sie später etwas, was sie verbindet – ich selbst habe eine ähnliche Kette, die ich meistens trage.

Schließlich habe ich noch ein blaues Jäckchen und verschiedene Mützchen für Samuel gestrickt. Es war nicht ganz einfach, eine Anleitung für so kleine Mützen zu bekommen – deswegen habe ich nach einem Puppenheft gearbeitet. Dadurch, dass ich all diese Dinge für ihn tun konnte, ist er für mich in dieser Zeit sehr real gewesen und ich wollte mich auf ihn genauso wie auf Jonathan vorbereiten.

Dass die Zwei sehr lebendig waren, haben sie mich natürlich auch körperlich immer spüren lassen. Das Gestrampel und Gezappel war total schön. Umso schrecklicher und unfassbarer war es wiederum, dass wenn für ein Kind das Leben beginnt, es für das andere zu Ende sein soll?!

Viele Gedanken sind mir im Kopf umhergegangen. Normalerweise beschäftigt sich wohl kaum eine Schwangere so intensiv mit dem Tod. Ich habe einige Bücher gelesen, wie "Immanuel", "Kleine fremde Tochter Prisca" und "Du kehrst zurück in Gottes Hand" (siehe Literaturtips). Oft musste ich beim Lesen weinen. Jedoch hatte ich auch das Gefühl, mich besser auf das Kommende vorbereiten zu können, indem ich diese Erfahrungen las. Meist konnte ich irgendeinen Gedanken für mich aufnehmen, der mir wieder in Bezug auf Samuel weiterhalf.

Auch die lieben Briefe einer Bekannten haben mir Mut gemacht und mich immer wieder getröstet. Sie war auch die erste, die schrieb, ich sollte mich auch ganz speziell auf dieses Kind freuen, es sei genauso von Gott gewollt, wie jedes andere. Entscheidend sei nicht wie lange es bei uns bleiben könne – und selbst wenn es dann gestorben wäre, so ginge es doch nur voran in eine andere Welt.

In gewisser Weise hatten wir uns während der Schwangerschaft schon wieder etwas gefasst. Wir wussten, dass wir an Samuels Zustand nichts würden ändern können. Da hatten wir auch keine falschen Illusionen. Und so schrecklich dies für uns war, so versuchten wir doch, uns nicht die Frage nach dem "WARUM" zu stellen.

Anfangs dachte ich natürlich schon, warum muss all das Unglück uns treffen – hätte es nicht gereicht, dass wir so schwer zu Kindern kommen konnten und schon eine Fehlgeburt hatten?

Wir versuchten so gut es ging, dieses – eben unser – Schicksal anzunehmen. Mit meinem Glauben habe ich nicht gehadert. Müsste da nicht jeder, den irgendeine Krankheit, Unglück oder Unfall trifft, mit Gott hadern?

So komisch es klingen mag, trotz aller ängste, die wir hatten, war ich tief in mir davon überzeugt, dass die Schwangerschaft einigermaßen gut weitergehen würde. Ich war sicher, dass es beide Kinder bis zur Geburt schafften – dafür hatte ich auch ständig gebetet.

Da wir wussten, wie begrenzt unsere Zeit mit Samuel sein würde, begannen wir, uns Gedanken über den Ablauf seiner Geburt und die Zeit, die wir mit ihm haben würden zu machen.

Mit meinem Frauenarzt vereinbarten wir, dass ich auf alle Fälle einen Kaiserschnitt mit Rückenmarksnarkose bekomme. Er erklärte uns, dass die meisten Zwillinge zu früh geboren werden – wir sollten lieber mit einem früheren Geburtstermin (der reguläre wäre am 21.03.2003 gewesen) rechnen. Falls wir es überhaupt so weit schaffen, würde der Kaiserschnitt in jedem Fall in der 38.SSW gemacht werden. Da es eine geplante OP sein würde, dürfte mein Mann bei der OP dabei sein. Nach wie vor sah mit Jonathan alles gut aus (wir waren zu dem Zeitpunkt in der 28.SSW, das war kurz vor Weihnachten).

Wir versuchten auch schon mit ihm zu klären, welche Behandlung wir für Samuel wünschten. Wir wollten schmerzlindernde Mittel, falls sie nötig wären, jedoch keine lebensverlängernden Maßnahmen. Außerdem wollten wir Samuel die ganze Zeit bei uns haben – er sollte nicht irgendwo weggebracht oder untersucht werden. Mein Arzt konnte uns nicht auf alle Fragen genaue Antworten geben. Er versprach, jedoch schon mit den ärzten in dem Krankenhaus vorab über "unseren Fall" zu sprechen und ihnen unsere Wünsche mitzuteilen. In jedem Fall wäre dazu aber immer noch genügend Zeit, da ja ein Kaiserschnitt immer eine gewisse Vorlaufzeit hätte.

Es war ein großes Bedürfnis für uns, Samuel taufen zu können. Aber würde er die Zeit dafür haben? Kann man ein Kind noch taufen, wenn es bereits gestorben ist? Vieles um dieses Thema war uns unklar. Daher baten wir unseren Pfarrer um ein Gespräch. Er war sehr betroffen, unsere Geschichte zu hören und erklärte uns, das die Taufe "eigentlich" nur an Lebenden vorgenommen werden kann; sollte Samuel sofort sterben könne man ihn segnen. Von ihm bekamen wir das Angebot, dass er sobald der Kaiserschnitt gemacht wird, kommen würde, um Samuel zu taufen bzw. zu segnen.

Wir waren nach diesem Treffen wieder ein wenig mehr erleichtert. In Gedanken malten wir uns immer wieder aus, wie es wohl werden würde und hofften, dass Samuel diese wenigen Minuten zu leben hätte. Meinem Mann war es sehr wichtig, dass er getauft würde. Ich entspannte da innerlich etwas mehr und nach mehreren Gesprächen war ich überzeugt davon, dass Samuel die Taufe nicht unbedingt brauchte, um von Gott aufgenommen zu werden. Sollte er wirklich sofort sterben, so würde es egal sein, ob er nun getauft oder gesegnet worden wäre – Gott würde ihn auf jeden Fall erhören. Eigentlich ging es um ein religiöses Ritual, das wir ihm gerne geben wollten. Ob man es nun Taufe oder Segen nennt schien mir keinen großen Unterschied zu machen.

Bei dem Gedanken an Samuels Geburt und sein Leben stellte ich mir sehr oft die Frage, ob ihn denn noch Freunde oder Verwandte von uns kennen lernen würden? Ich stellte es mir schön vor, wenn wir nicht die Einzigen wären, die ihn sehen würden – schließlich ist er ein Mitglied unsere Familie. Kann denn irgendjemand überhaupt unsere Trauer verstehen, wenn niemand Samuel gesehen hat? Aber wer würde ihn sehen wollen? Ist es überhaupt zumutbar, jemanden darum zu bitten? Haben wir nicht selbst genug ängste vor seinem Aussehen? Und was, wenn er sofort gestorben ist?

Dies war ein sehr schwieriger Punkt. Es war klar, dass meine Eltern in jedem Fall Samuel noch kennen lernen wollten. Das Verhältnis zu den Eltern meines Mannes ist nicht so besonders – sie konnten sowieso sehr schlecht mit unserer Situation umgehen. Da wir für die kurzen Stunden, in denen wir Samuel haben würden keine zusätzliche Belastung wollten, entschieden wir uns dafür, sie lieber nicht dabeizuhaben.

Mit meinen Geschwistern habe ich versucht, das Thema anzusprechen, ohne dass sie sich zu etwas genötigt oder gedrängt fühlen. Ich wollte ihnen die Möglichkeit geben, sich frei zu entscheiden, ob sie kommen wollten oder nicht. Es war klar, dass wir uns über ihr Kommen gefreut hätten, jedoch haben wir jede Entscheidung respektiert. Dass bei diesem Schritt ja auch viele ängste innerhalb der Familie da waren, mit denen jeder für sich klar kommen musste, hat die jeweilige Entscheidung natürlich mitbeeinflusst. Wir wollten jedoch für uns nicht einteilen, in die, die uns besuchen und die, die es nicht tun (das haben wir auch im nachhinein nicht getan).

Mein schönstes Weihnachtsgeschenk wurde mir von meiner besten Freundin Petra gemacht. Sie fragte von sich aus, ob sie uns denn so bald besuche dürfte, dass sie Samuel noch kennen lernen könne. Das hat mich sehr glücklich gemacht.

Ich empfand es als Zeichen der Würdigung von Samuel, dass er auch von anderen noch gesehen und angenommen wird. Schließlich wird jedes "normale" Baby ja auch besucht.

Je weiter meine Schwangerschaft fortschritt, desto beschwerlicher wurde sie für mich. Ich hatte mit den verschiedensten Problemen zu kämpfen und fühlte mich auch körperlich nicht so besonders. Dennoch war ich froh und sehr dankbar, dass keine wirklichen Schwierigkeiten, wie erneute Blutungen oder Wehen auftraten. Obwohl ich einerseits natürlich wollte, dass wir bald in eine – für Jonathan – möglichst sichere Woche (optimal wäre so die 36.SSW gewesen) kommen, hätte ich trotzdem manchmal gerne die Zeit angehalten. Es ging mir fast zu schnell, wie die Wochen so dahinrasten und das Unausweichliche immer näher rückte.

Meine Beiden waren sehr lebhaft und strampelten viel. Wir haben sie oft gestreichelt und mit ihnen geredet. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass wir, wenn wir den Termin für den Kaiserschnitt wissen würden, schon Abschied von Samuel nehmen müssten. Er schien so fröhlich und lebhaft, fast als ob er wüsste, dass dies hier in meinem Bauch sein ganzen Leben sein würde.

Kurz nach Weihnachten haben wir erstmals unsre Hebamme aufgesucht, um mit ihr die Geburt zu besprechen und uns den Kreißsaal anzusehen. In ihr haben wir eine sehr liebevolle und verständnisvolle Frau kennen gelernt. Wir haben mit ihr ganz offen über Samuel geredet und ihr unsere Wünsche erklärt. Vor allem war uns wichtig, dass er mit Würde behandelt werden sollte. Sie erzählte uns, dass sie schon mehrere "solcher" Kinder entbunden hätte, die meisten hätten jedoch die Geburt nicht überlebt. Auf jeden Fall würde Samuel genauso gut behandelt wie jedes andere Baby. Selbstverständlich würden wir ihn die ganze Zeit bei uns haben. Sie versicherte uns, dass – da es ja keine Hilfe für ihn gab und er unweigerlich sterben würde – er in jedem Fall sofort in eine Decke gewickelt und uns gegeben würde. Es würden auf keinen Fall irgendwelche Untersuchungen an ihm gemacht, das könne sie uns versichern. Sie zeigte uns den Raum, wo wir die Stunden nach der OP zusammen mit Samuel verbringen könnten (falls es bei mir keine Komplikationen gebe) und bot uns an, Kerzen oder schöne Musik zur Verfügung zu stellen. Außerdem würde sie Fotos und Hand- und Fußabdruck von Samuel machen.

Obwohl es sehr traurig war, tat es uns gut, alles schon so genau zu besprechen. Dadurch bekamen wir doch schon eine sehr reale Vorstellung davon, wie alles ablaufen würde. Frau Z., unsere Hebamme, meinte noch, dass es schon wichtig sei, dass wir um Samuel weinten und von ihm Abschied nehmen könnten. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass wir noch ein zweites Kind hätten, das uns genauso braucht.

Nein, das hatten wir nicht vergessen. Aber es war schwierig größte Freude und größte Trauer gleichzeitig auszuhalten.

Je weiter meine Schwangerschaft voranging, desto mulmiger wurde unsere Gesamtstimmung. Trotzdem wir versuchten uns so intensiv auf Samuel vorzubereiten, war doch auch große Angst da, wie alles werden würde.

Auch der Gedanke, dass er vielleicht so lange leben könnte, dass wir ihn noch mit nach Hause bekommen würden, war irgendwo beängstigend. Ich betete darum, dass wir die Kraft für diese Situation haben würden, falls es denn so kommen sollte.

Gegen Ende der 33.SSW hatte ich einen Arzttermin zum CTG. Dieses fiel leider sehr schlecht aus, und mein Arzt bat mich, sofort ins Krankenhaus zu fahren, um ein neues CTG zu machen. Dort gab es spezielle Geräte für Zwillings – CTG. Wir verbrachten mehrere Stunden bei dem Versuch, ein ordentliches CTG zu schreiben, jedoch sah es im Moment so aus, als ob es unseren Buben sehr schlecht ginge.

Die Diskussion, ob sofort ein Notkaiserschnitt gemacht werden sollte, begann. Wir waren ziemlich schockiert. Um die Versorgung der Beiden genauer zu überprüfen wurde noch ein Dopplerultraschall gemacht. Zum Glück konnte man dabei erkennen, dass Jonathan noch gut versorgt war.

Samuel strampelte und zappelte wie verrückt – da er etwas kleiner war, hatte er noch besser Platz dazu. In diesem Moment wurde mir klar, dass das viele lebhafte Strampeln wohl eher von ihm als von Jonathan gekommen war.

Der Arzt, der den Ultraschall gemacht hatte, meinte, es sei ungewöhnlich, dass das CTG so schlecht ausfällt, obwohl Jonathan ganz offensichtlich noch gut versorgt sei. Normalerweise wird erst die Versorgung schlecht und dann das CTG. Er schloss mich erneut an das Gerät an und dieses schrieb nun eine sehr schlechte Kurve – die von Samuel – und eine normale Kurve – die von Jonathan. Bei allen vorherigen Versuchen waren wohl mit beiden Sensoren immer nur Samuels Herztöne erfasst worden. Wir atmeten alle erleichtert auf, denn die Notwendigkeit für den sofortigen Kaiserschnitt war nun nicht mehr gegeben. Trotzdem bekam ich zur Sicherheit zwei Spritzen, um die Lungenreife zu beschleunigen. Bis die ganze Wirkung erreicht wäre, würden 24 Stunden vergehen.

Ich blieb zur Sicherheit stationär im Krankenhaus.

Im nachhinein war dies ein großes Glück, denn obwohl niemand damit rechnete, platzte schon in der nächsten Nacht meine Fruchtblase – nur zwei Stunden nachdem die Lungenreifespritzen ihre Wirkung erreicht hatten.

Nun ging alles sehr schnell. Die ärzte entschieden, den Kaiserschnitt noch in der Nacht zu machen, um nur nichts mehr für Jonathan zu riskieren.

Ich rief meinen Mann an, der nur kurze Zeit später bei mir war. Dann wurde ich für die OP vorbereitet. Es ging auf Mitternacht zu und wir versuchten, unseren Pfarrer telefonisch zu erreichen. Leider war dieser schwer erkrankt, mit dem Verdacht auf Mumps, und konnte nicht wie versprochen kommen.

Es verstrich noch einige Zeit, bis alles vorbereitet war, die zwei Kinderärzte da waren etc. Komischerweise war ich total ruhig. Ich hatte keine Angst vor der Operation oder dem was danach kommen würde. Irgendwie war ich erleichtert, dass nun alles seinen Lauf nehmen würde. Wir konnten nichts mehr beeinflussen. All die vielen Gedanken und Grübeleien würden nun aufhören – wir waren dort angelangt, worauf wir monatelang hingezittert hatten.

Natürlich waren wir noch viel zu früh dran mit der Geburt, schließlich waren wir ja erst bei 33+1 angelangt, dennoch war ich zuversichtlich, dass mit Jonathan alles gut werden würde. Immerhin hatten wir ja noch die Lungenreife bekommen.

Da wir nun einen Notkaiserschnitt bekommen würden, konnte mein Mann nicht bei der OP dabei sein.

Um 1 Uhr 11 wurde Jonathan (2150g, 46cm) und um 1 Uhr 12 Samuel (1100g, 37cm) geboren.

Jonathan hat sofort leise geschrieen, worüber ich sehr glücklich und erleichtert war. Ich durfte ihn ganz kurz sehen und berühren, bevor er in einen Inkubator und auf die Neugeborenenintensivstation kam.

Die Hebamme fragte mich, ob es in Ordnung sei, wenn ich das kranke Baby erst später sehe. In dem Moment habe ich zugestimmt – was ich später sehr bereut habe. Was wenn Samuel in dieser dreiviertel Stunde, die die Operation noch dauern sollte, gestorben wäre? Das hätte ich mir sicher nicht verziehen. Aber in dem Moment war ich zu blockiert, um zu wiedersprechen.

Um zwei Uhr früh kam ich endlich aus dem Operationssaal zu meinem Mann. Er wartete mit Samuel auf dem Arm auf mich. Auf meine bange Frage, ob er denn noch lebt, nickte er zum Glück und lächelte. Er sah irgendwie stolz und glücklich aus. Dann hat er ihn mir in den Arm gegeben. Ich kann kaum beschreiben, was ich gefühlt habe.

Samuel hatte ein total liebes Gesicht und einen perfekten Körper. Sein Köpfchen war im Vergleich zum Körper sehr, sehr klein – es hörte direkt über den Augen auf. Mein Mann und ich hatten für uns beschlossen, die Wunde lieber nicht anzusehen – und so war das Köpfchen etwas eingebunden. Der Kopf fiel bis in den Nacken hin ab, so dass er keinen richtigen Hals hatte. Samuel konnte die Augen und den Mund nicht schließen.

Wir haben ihn abwechselnd gehalten, gestreichelt, geküsst und immer nur angeschaut. In der Zeit, bis ich aus dem OP kam, hatte mein Mann selbst Samuel schon getauft. Die Taufkerze, die ich für ihn gebastelt hatte, brannte die ganze Zeit in der er bei uns war. Ich war völlig ruhig und entspannt, alle ängste, alle Gedanken waren von mir abgefallen.

Mein kleiner Sohn tat mir so leid – aber es war offensichtlich, dass er nicht lange bei uns sein würde. Er konnte nicht richtig atmen und japste immer nur nach Luft. Anfangs ging es noch regelmäßiger aber dann wurden die Abstände seiner Atemzüge immer länger.

Das Personal war sehr verständnisvoll und hat uns weitgehend alleine gelassen – bis auf die Betreuung, die ich brauchte. Es herrschte eine friedliche und würdevolle Stimmung, alle waren sehr lieb zu Samuel. Eine Schwester hat ihn sogar gestreichelt.

Einmal kam eine ärztin um uns zu sagen, dass Jonathan ganz gesund sei und es ihm sehr gut ginge – er könne selbständig atmen und sei bestens versorgt. Wir waren sehr froh, das zu hören. In dem Moment dachten wir weniger an ihn, als an den kleinen Samuel.

Es war Samuel vergönnt, etwas länger als drei Stunden zu leben. Erst haben wir gar nicht gemerkt, dass er schon gestorben war, aber als er sehr, sehr lange keinen Atemzug mehr gemacht hatte, wurde uns dies bewusst. Das war um 4 Uhr 30.

Das ist wohl das Schlimmste, was einem passieren kann – wenn man sein eigenes Kind sterben sieht.

Wir waren sehr traurig und haben geweint – jedoch habe ich auch eine gewisse Erleichterung verspürt, dass er es jetzt "geschafft" hatte und keinen langen Kampf hatte. Ich war mir sicher, dass er in ein besseres Leben eingetreten war.

Unsere Hebamme hat Samuel dann die Anziehsachen, die ich ihm gekauft und gemacht hatte, angezogen und Fotos und Hand- und Fußabdruck von ihm gemacht. Es war so traurig, ihn in den Sachen zu sehen. Die allerkleinste Mütze, die ich gestrickt hatte, war ihm noch viel zu groß.

Gegen sechs Uhr morgens habe ich meinen Eltern von der Geburt der Beiden und von Samuels Tod Bescheid gegeben. Sie sind sofort losgefahren, um uns und ihn zu sehen. Meine ältere Schwester mit ihrer Familie und meine beste Freundin Petra waren auch gekommen. Ich habe mich so gefreut, dass sie alle da waren. Es war für uns schon ein Zeichen der Wertschätzung für Samuel, dass sie ihn alle noch kennen gelernt hatten. Ich war in dem Moment total gelöst – so schlimm das alles für uns war, war ich doch auch erleichtert, dass "es" jetzt ausgestanden war. Es herrschte eine Atmosphäre von Frieden und Geborgenheit – obwohl alle traurig wegen Samuel waren. Wir haben weitere Fotos zur Erinnerung gemacht.

Nachdem wir wieder alleine mit unserem Sohn waren, sahen wir, dass er sich schon sehr schnell veränderte. Wir wollten ihn gerne so in Erinnerung behalten, wie wir ihn erlebt hatten, und so baten wir eine Schwester, ihn jetzt mitzunehmen. Es war ein schrecklicher Moment, als sie ihn weggebracht hat – wir haben sehr geweint. Ich versuchte meinen Mann damit zu trösten, dass dies ja nur seine Hülle war – seine Seele war ja schon bei Gott.

Die Schwester sagte uns noch, dass wir in den nächsten Tagen immer noch die Möglichkeit hätten, Samuel nochmals zu sehen. Das wollten wir jedoch nicht. Wir wollten ihn so in unserer Erinnerung behalten.

Die Vorbereitungen für Samuels Beerdigung waren sehr schlimm für uns. Wir wollten aber, dass er einen würdigen Abschied bekommt. Das schien uns das Wenigste, was wir noch für ihn tun konnten. Da unser Pfarrer immer noch krank war, wurde die Beerdigung von einem Freund von ihm gehalten. Er war einen Abend zuvor noch bei uns, und hat unsere "Geschichte" angehört.

Samuels Beerdigung war am 10.Februar. Uns graute davor – irgendwie schien es fast unsere Kräfte zu übersteigen, unser eigenes Kind zu beerdigen.

Der Pfarrer hatte eine so ergreifende, tröstende Ansprache gehalten – noch jetzt, wenn ich sie lese, muss ich weinen. Es tat uns gut, dass unser Kind so einen schönen Abschied bekommen hatte. Ich war trotz meiner Trauer kaum fähig zu weinen.

Schön war, dass so viele Verwandte und Freunde zu Samuels Beerdigung gekommen waren.

Im nachhinein war ich froh, dass wir alles so gemacht hatten. Wir hatten für Samuel alles getan, was uns möglich war und ihm all unsere Liebe gegeben. Er konnte in mir zumindest 33 Wochen leben und über seine Zeit konnte nur Gott entscheiden.

Meine Trauer kam erst viel später wirklich durch. Zunächst war ich froh, dass wir durch diese schwierige Zeit hindurchgekommen waren. Dann war natürlich noch Jonathan da – das ständige ins Krankenhaus fahren und ihn auf der Frühchenstation versorgen hatte mich auch ziemlich in Anspruch genommen. Bis das Stillen klappte, etc... Durch diesen ganzen Trubel sind viele Gefühle erst mal verdrängt worden.

Jonathan war zum Glück ganz gesund. Er war nur drei Tage in einem Inkubator auf der Intensivmedizinischen Station und wurde dann schon in ein "normales" Wärmebettchen verlegt. Er konnte sofort selbständig atmen und hatte auch sonst keine Probleme, sondern musste lediglich etwas aufgepäppelt werden. Schon am 24. Februar durften wir ihn nach Hause holen.

In ein paar Tagen wird Jonathan schon ein halbes Jahr alt. Er ist unser ganzer Stolz und unser größtes Glück, ein richtiger Sonnenschein. Ich kann kaum beschreiben, welcher Segen und welche Bereicherung er für unsere Familie ist.

Natürlich ist der Schmerz um Samuel immer noch da. Jedes mal wenn ich Zwillinge sehe, gibt es mir einen Stich, weil ich mir denke – hier sollten jetzt auch zwei solcher Wonneproppen sein.

Jedoch sind wir Gott von ganzem Herzen dankbar, dass wir ein gesundes Kind haben.

Bei dem Versuch, uns irgendwie zu trösten, haben wir oft Sätze gehört, wie 'Ihr müsst froh sein, dass ihr jetzt ein Kind habt' oder 'Für ihn war es besser, dass er sterben konnte'. Das ist natürlich alles richtig und vom Kopf her war es uns auch bewusst, dass es so kommen würde und es letztendlich für Samuel besser war. Vom Herzen her hätten wir sie trotzdem unendlich gerne beide genommen.

Das Wissen um seine Erkrankung hat uns lediglich die Chance gegeben, uns auf ihn vorzubereiten. Trotzdem war es dadurch nicht leichter geworden, ihn abzugeben – er war uns doch schon sehr ans Herz gewachsen.

Es sind nur Wenige, mit denen wir auch jetzt noch über Samuel reden. Meist wird wohl erwartet, dass wir das Ganze abhaken und zur normalen Tagesordnung übergehen. Dass er ein großer Verlust für uns ist – obwohl er diese Missbildung hatte – kann wohl kaum jemand nachvollziehen.

Vielleicht fehlen auch nur die passenden Worte und deswegen wird das Thema 'Samuel' nicht mehr angesprochen. Umso tröstlicher auch hier der kleine Kreis, der Samuel nicht totschweigt. Es tut gut, auch jetzt noch über ihn zu reden.

Samuel hat unser Leben sehr verändert. Die Trauer darüber, dass er nicht gesund sein durfte und bei uns bleiben konnte, wird immer ein Teil davon sein. Umso mehr schätzen wir, was wir aneinander und an unserem Jonathan haben und erleben jeden Tag ganz bewusst. Wir sind dankbarer für alles geworden, nehmen nichts mehr als selbstverständlich hin.

Die Erkenntnis, dass wir die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht in der Hand haben, sie auch nicht im mindesten beeinflussen können, hat uns eine ganz neue Sicht für viele Dinge gegeben.

Es ist fast so, als ob unser Leben eine neuen Intensität und Tiefe bekommen hätte.

Unser Glaube ist durch Samuel noch fester geworden, hier haben wir Kraft und Trost gefunden.

Wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne die drei Stunden mit Samuel noch einmal nachholen. Die tiefe Liebe, die erst im Laufe der Zeit zu seinem Kind wächst, habe ich in diesen kurzen Stunden so noch nicht gehabt. Jetzt würde ich ihm die gerne nochmals geben.

Wir leben in der Hoffnung, dass Samuel nun ein besseres Leben führen darf. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an ihn denken und für ihn beten.

Jedes Leben ist in der Tat
ein Geschenk
egal wie kurz
egal wie zerbrechlich
jedes Leben ist ein Geschenk
welches für immer
in unserem Herzen weiterleben wird.

(Text aus Samuels Geburtsanzeige)

, Deutschland

 

Nachtrag vom Januar 2005

Zwei Jahre sind nun schon vergangen, seit Jonathans und Samuels Geburt und Samuels Sterben.
Manchmal kann ich immer noch nicht fassen, was uns passiert ist – dann lese ich mir wieder unsere Geschichte durch und sehe mir unser Erinnerungsalbum mit den Fotos von Samuel an. Es ist unendlich wertvoll für uns, dass wir diese Erinnerungsstücke haben – beweisen sie uns doch die Existenz unseres kleinen Samuel.

Ich glaube sagen zu können, dass wir unseren Frieden mit Samuels Sterben gefunden haben. Seine Krankheit war mit dem Leben unvereinbar, das wussten wir von Anfang an. Obwohl ich manchmal schon diese bittere Gefühl der Ungerechtigkeit verspürt habe – "Warum wir? Warum Samuel?"
Er fehlt uns so sehr.
Am schlimmsten ist es, wenn ich andere Zwillinge sehe. Dann wird mir überdeutlich bewusst, dass neben Jonathan noch jemand fehlt. Es ist nicht so, dass ich ständig den Verlust vor Augen habe, dazu ist die Freude über unseren Sonnenschein viel zu groß – jedoch gibt es immer wieder Momente, in denen einen die Trauer einholt.

Es ist oft sehr hart für uns, dass von unserer Umwelt erwartet wird, dass wir möglichst zur Tagesordnung übergehen. Dieses Gefühl haben wir zumindest, da wir spüren, dass Samuel zu einem Thema geworden ist, über das man nicht spricht. Oft bekamen wir Sätze zu hören, wie "Ihr müsst froh sein, dass Ihr jetzt ein gesundes Kind habt" oder "Für ihn war es besser, dass er sterben durfte". Sicherlich kann ich vom Kopf her dem zustimmen. Aber mit dem Herzen ist es einfach so, dass Samuel – egal wie krank oder missgebildet er war – unser Kind ist. Und dieses Kind fehlt uns – es hinterlässt eine Lücke in unserer Familie. Es war besser, dass er sterben konnte – sein kurzes Leben hat uns ja deutlich gezeigt, dass er nicht überlebensfähig war. Dennoch tut es weh, dass unser Kind so krank sein musste und keine Chance auf ein normales Leben hatte. Dass uns der Verlust "dieses" Kindes so schmerzt, können viele nicht nachvollziehen. Schließlich war es ja (in den Augen vieler Außenstehender) ein "Segen", ass er so schnell gestorben ist – und nicht etwa behindert überlebt hatte. Natürlich würde mir das niemand so direkt ins Gesicht sagen, aber man "spürt" es irgendwie, wie manch Andere über Samuel denken.

Manchmal habe ich das irrationale Gefühl, selbst meine Trauer verteidigen zu müssen.

Leider mussten wir auch erfahren, dass vermeintliche "Freundschaften" sich gerade in schwierigen Zeiten als nicht echt und belastbar erwiesen hatten. Hier hat sich auch in unseren Beziehungen einiges geändert.
Zu unserem Glück haben wir jedoch auch Angehörige und echte wirkliche Freunde, denen es nicht zu viel wird, auch wenn ich immer wieder von Samuel zu reden anfange. Oft überrascht einen wieder die Traurigkeit und man muss sich einfach ausheulen können.

Sehr große Hilfe haben wir hier durch den Kontakt zu anderen Betroffenen erfahren. Wir durften sehr liebe Familien kennen lernen – dadurch, dass wir alle Ähnliches erlebt hatten, ist schnell eine starke Verbundenheit entstanden. Gegenseitig können wir uns Trost und Stütze geben.
Der größte Segen dabei ist, einfach ganz offen über Samuel reden zu können. Das ist es, was uns so fehlt – einfach ganz normal über ihn zu reden. Ohne Angst, dass jetzt die Stimmung "versaut" wird; ohne Angst vor betretenen Gesichtern, ohne Angst vor Sprachlosigkeit. Ich habe das Gefühl, dass (fast) niemand fähig ist, über Krankheit, Tod und Trauer unbefangen zu reden. Man hat schon das Gefühl, hier ein Riesentabuthema anzusprechen. Komischerweise kommen diese für uns so wichtigen Gespräche nicht zustande, obwohl von unserer Seite Gesprächsbereitschaft signalisiert wird. Müssten da nicht eher die Außenstehenden auf uns zugehen? Wahrscheinlich verlange ich auch zuviel. Zudem nach dieser Zeit sowieso erwartet wird, dass wir über den Tod von Samuel hinweg gekommen sind.
Wie sehr habe ich oft danach gelechzt, dass jemand die Fotos von Samuel sehen will. Das ist leider so gut wie nie passiert. Zu groß ist die Angst der Anderen, uns vielleicht weh zu tun oder traurige Erinnerungen zu wecken. Dabei tut es am allermeisten weh, dass über Samuel so viel geschwiegen wird! Unsere Erinnerungen muss niemand wecken, wir tragen sie ständig mit uns herum! Aber wie schön wäre es, mit anderen darüber zu reden und uns auszutauschen!

Für mich ist es sehr wichtig, dass Samuel in unserer Familie seinen festen Platz hat. Es ist mir möglich, mit Hamu jederzeit über ihn zu sprechen. Manchmal tut es uns auch nur gut, wenn wir uns gegenseitig sagen können, dass wir ihn vermissen.
Nach einiger Zeit haben wir es auch geschafft, uns Erinnerungsstücke an Samuel zu schaffen, die wir in unserem Haus aufgestellt haben. Entgegen gutgemeinter Ratschläge tut es uns nicht weh, sein Bild jeden Tag anzusehen. Die Erinnerung an ihn wäre auch so jeden Tag da. Auch so kleine Dinge, wie zum Beispiel eine Kerze für ihn anzuzünden – geben uns das Gefühl, dass er irgendwie bei uns ist.

Jonathan ist unser ganzes Glück – das Beste, was uns je passiert ist, da sind wir uns einig. Er wächst mit dem Bewusstsein auf, dass er noch einen Bruder hat. So wie er alles in seiner Umwelt begreifen lernt, so begreift er auch das ganz selbstverständlich. Er hat einen Bruder, der jetzt schon im Himmel beim lieben Gott ist. Wir haben ihm erklärt, dass Samuel sehr krank war und nicht auf der Erde leben konnte. Deshalb hat Gott ihn gleich zu einem kleinen Engelchen gemacht und ihn zu sich in den Himmel geholt. Dort ist er jetzt gesund und hat viele Freunde.
Eigentlich eine schöne Vorstellung, obwohl ich selbst diesen bildlichen Glauben nicht habe. Mir reicht aber meine überzeugung, dass Samuel in irgendeiner Weise weiterlebt – ein besseres Leben als es ihm hier möglich gewesen wäre.
Es ist schön, Jonathans Eifer zu beobachten, wenn er Samuel eine Kerze bringen darf, oder wir ihm Blumen bringen. Oft "beschenkt" er ihn auch mit Händen voll Steinen, die er auf der Erde oder auf seinem Grabstein ablegt. Wenn er um das Grab herumspringt und zwischen den Bauklötzen aus denen der Grabstein gefertigt ist "Guck-Guck" macht, wird uns wieder bewusst, wie sehr unser Leben weiterhin von diesen ambivalenten Gefühlen geprägt sein wird – einerseits die Trauer um unseren lieben Samuel und andererseits die übergroße Freude mit unserem quirligen Jonathan.

Jedoch habe ich auch das Gefühl, dass die Trauer leiser wird – der Spruch "Zeit heilt Wunden" fällt mir dazu ein.

Manche Tage sind natürlich sehr von den Erinnerungen geprägt – und so war zum Beispiel der erste Geburtstag unserer Zwei eine "Hürde" (so kam es mir zumindest vor). Wir wollten einerseits mit Jonathan feiern, andererseits kamen an diesem Tag natürlich alle Gefühle wieder sehr stark hoch. Da Samuel und Jonathan ja kurz nach ein Uhr nachts geboren wurden, war der Vorabend des Geburtstags sehr von traurigen Erinnerungen geprägt. Wir haben gemeinsam geweint und uns auch wieder Samuels Album angesehen und unsere Geschichte gelesen. Hamu ist nachts genau zur Geburtszeit unserer Zwei und zur Sterbezeit von Samuel aufgewacht. Es war gut, dass all diese Gefühle raus konnten – so waren wir am Geburtstag selbst irgendwie gelöster. Wir haben gemeinsam am Vormittag ein schönes Herz aus Rosen gesteckt, mit einem kleinen Teddy drin, auf den Friedhof gebracht. So konnten wir Samuel auch ein Geschenk machen. Der restliche Tag war natürlich Jonathan gewidmet. Was uns sehr gefreut hatte war, dass alle, die zu Jonathans Geburtstag gekommen sind, auch etwas für Samuels Grab mitgebracht hatten. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn er nicht auch bedacht worden wäre.

Samuel hat unser Leben sehr nachhaltig verändert. Auch wenn wir dadurch viel Trauriges erlebt haben, so haben wir es doch keinen Moment bereut, dass wir uns für ihn entschieden haben. In vieler Weise ist unser Leben durch Samuel reicher geworden. So ist es uns möglich, jeden Tag, den wir miteinander erleben dürfen, als Geschenk anzunehmen. Das Wunder, ein gesundes Kind haben zu dürfen, ist uns sehr stark bewusst und wir nehmen das nicht – wie so viele Andere – als Selbstverständlichkeit hin!
Die Erfahrungen, die wir in unserer Trauer um ihn erlebten, haben uns auch sensibler im Um-gang mit unseren Mitmenschen gemacht. Mir selbst ist es ein Bedürfnis, anderen Trauernden "hilfreich" zur Seite zu stehen.

Das Sterben selbst hat für mich den Schrecken des "Endgültigen" verloren. Ich habe den festen Glauben, dass dann etwas Neues folgen wird. Wie auch immer das aussehen mag, kann keiner sagen und ich muss es mir auch gar nicht genau vorstellen können.

Was bleibt ist die liebevolle Erinnerung an Samuel.

"Der Tod kann uns von unseren Lieben nicht trennen, denn
da ist die Erinnerung, die in unseren Herzen weiterlebt,
da ist die Dankbarkeit, die uns im Gedenken an sie erfüllt, und
da ist die Liebe, die niemals enden wird."
Irmgard Erath

 

Nachtrag vom Mai 2006

Am 4. Mai 2006 kam Samuels und Jonathans kleiner Bruder Tobias gesund zur Welt!

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 26.02.2019