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Tobiah

 

22.11.1991

Weshalb lies Gott dem "Wunder der Geburt" das Geheimnis des Todes so nahe folgen ?

Ich war sein ganzes Leben lang mit meinem Sohn, zwei Minuten. Er trat in die Welt des Lichtes und der Luft um 8.20 Uhr ein, am 22. November 1991. Und er verliess sie um 8.22 Uhr.

Es scheint eine sehr kurze Zeit. Meine Frau Susan und ich werden niemals seine ersten Schritte sehen. Wir sahen nur seinen ersten Atemzug. Ich weiss nicht, ob er lieber mit Softball oder mit Software gespielt hätte, ob er Dinosaurier oder Drachen gemocht hätte. Wir werden nie mit ihm balgen, um die Wette laufen oder mit ihm lesen - würde er diese Dinge genau so gemocht haben wie seine Schwestern? Was hätte ihn zum Lachen gebracht? Ihm Angst gemacht? Ihn wütend gemacht?

Diese Fragen bewegten meine Seele in den Tagen nach seiner Ankunft und seinem so überstürztem Abschied. Ich fragte mich so viele Dinge. Doch eine Frage blieb länger stehen als alle anderen, verfolgte mich während Monaten: Weshalb schuf Gott ein Kind, um nur zwei Minuten zu leben?

Viele tragische Todesfälle können der menschlichen Brutalität oder Verrücktheit angeschrieben werden. Eine verirrte Gewehrkugel tötet ein Kind. Ein Autofahrer verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und schiesst in eine Gruppe Schulkinder auf dem Gehweg. Das ist sinnlos, herzzerbrechend. Aber wenigstens weiss ich, wohin ich meine Wut dirigieren kann.

An dem Tode meines Sohnes gab es keinerlei menschliches Verschulden. Die ärzte gaben uns einen Chromosomenfehler, Trisomie 13, als Ursache an. Eines der 23 Chromosomenpaare wies ein drittes Chromosom auf. Auch genetische Tests und ärztliche Berichte konnten keinen Grund für diesen Zustand zu Tage bringen.

Soweit ich betroffen war, handelte es sich um einen Konstruktionsfehler, an dem allein der Konstrukteur verantwortlich war.

Ich erinnere mich an das erste Mal, dass ich das Wort Trisomie 13 hörte. Es war als ich meinen Sohn als schwarz-weisses Schattengespenst auf dem Ultraschallbildschirm sich bewegen sah. Ohne Worte sahen Susan und ich den embrionalen Bewegungen zu, als Dr. Silver mit dem Ultraschall Schädel- und Oberschenkelknochen ausmass, innere Organe kontrollierte.

"Ist alles in Ordnung?" fragte ich.

"Lassen sie mich den Untersuch beenden, dann werde ich ihnen alles ausführlich erklären." Seine ausweichende Antwort fiel mir auf. Ich hoffte, es sei lediglich sein normales Vorgehen. Einige Momente später kündigte er uns mit seiner sachlichen Stimme an: "Wir haben einige Probleme. Der Fötus hat ein missgebildetes Herz - die Aorta ist nicht recht angewachsen. Ein Teil des Gehirns fehlt. Ein Klumpfuss, wahrscheinlich eine Hasenscharte und ein offener Rücken (Spina bifida). Wahrscheinlich ist es ein Fall von Trisomie 13 oder 18. Sowohl der eine wie auch der andere Fall sind überhaupt nicht lebensfähig." Weder Susan noch ich brachten ein Wort heraus. So redete Dr. Silver weiter. "Höchstwahrscheinlich wird es zu einer spontanen Fehlgeburt kommen. Wenn das Kind auf die Welt kommen wird, wird es nicht lange ausserhalb des Mutterleibes überleben. Sie müssen sich jetzt entscheiden, ob sie diese Schwangerschaft bis zum Ende durchstehen wollen."

Wir wussten beide was er uns da fragte. Susan fand ihre Stimme als erstes wieder. Sie war sehr von diesen Neuigkeiten bestürzt, und doch sagte sie mit einer sanften aber bestimmten Stimme: "Wir glauben, dass Gott Leben schenkt und nimmt. Wenn die einzige Möglichkeit für mich dieses Kind zu kennen in meinem Bauch ist, dann möchte ich dies nicht untergraben. Wenn die einzige Welt, die dieses Kind kennen wird, mein Bauch ist, dann möchte ich, dass sie so sicher wie möglich für es ist."

Wir verliessen das Krankenhaus an diesem Julinachmittag traurig und bedrückt. "Eine Schwangerschaft ist schon schwierig genug, wenn man das Krankenhaus mit einem Baby im Arm verlassen kann" sagte Susan. "Ich weiss nicht, ob ich die Schmerzen der Geburt aushalten werde, mit dem Wissen, kein Kind zum Halten zu haben."

Der Sommer liess dem Herbst seinen Platz, und wir beteten, dass unser Kind geheilt werden würde. Doch wenn ein langes Leben nicht in Gottes Pläne passen würde, dass es wenigstens den Hauch des Lebens erfahren würde.

Doch sogar dieser Wunsch schien in Gefahr, als die Wehen am 22. November begannen. Als die Wehen immer stärker wurden, ging es dem Baby immer schlechter. "Sollen wir versuchen, das Baby lebend herauszuholen?" fragte die Krankenschwester. "Ja, und wenn möglich ohne Operation", antwortete Susan. Nachdem sie Susan Sauerstoff verabreicht hatten, und sie in eine andere Lage brachten, ging es dem Baby wieder besser. Dann war das Baby auf einmal draussen. Der Arzt schnitt die Nabelschnur durch und legte es auf Susans Brust. Er hatte eine gesunde, rosarote Farbe, wir sahen, wie sein Brustkorb sich hebte und senkte, er atmete. Danke Gott!

Dann, fast sofort, wurde er blau. Wir haben ihn gestreichelt, ihm Willkommens- und Abschiedsworte zugeflüstert, ihm gesagt, wie sehr wir ihn liebten. Und viel zu schnell musste der Arzt uns sagen, dass er gestorben sei.

Einige Minuten später kamen unser Pfarrer, unsere Eltern und unsere Kinder in den Raum. Wir weinten zusammen, haben uns umarmt, und haben abwechslungsweise unseren Sohn getragen. Mein Herz tat weh, so schwer war es. Der Tod ist riesig, enorm, unaufhaltsam.

Der Verlust war erdrückend, doch vermischt mit den Tränen und dem Schmerz war etwas anderes. Ich bin nicht sicher, es richtig beschreiben zu können.

Bei der Geburt meiner drei Töchter habe ich das "Wunder der Geburt" gefühlt, diesen heiligen Moment, wenn ein neues Leben das Licht erblickt. Das Pneuma, der Hauch des Lebens, erfüllte die Lungen zum ersten Mal. Dieses Mal war der Moment doppelt so intensiv, da das Wunder des Lebens so schnell dem Geheimnis des Todes Platz machen musste. Das Pneuma war da und war gegangen.

"Wie wenn die Ewigkeit die Welt gekreuzt hätte" war alles, was ich dem Pfarrer sagen konnte. Der Schmerz und die Mühe verminderten nicht, doch wurden verblendet vom Gewicht des Wunders der Ewigkeit.

"Haben sie einen Namen für das Baby?" fragte uns eine Krankenschwester. "Toby" sagte Susan. "Das ist eine Abkürzung für Tobiah, ein biblischer Name, der 'Gott ist gut' bedeutet."

Die Worte einer Romangestalt von C.S.Lewis kamen uns in den Sinn. Sie beschreiben den König Aslan: "Sicher, er ist nicht in Sicherheit. Aber er ist gut. Er ist der König, das sage ich euch". Wir klammerten uns an dieses Bild, auch wenn wir uns weiterhin die Frage stellten, weshalb Gott ein Kind geschaffen hatte, um nur zwei Minuten zu leben.

Kurz bevor wir von Tobiahs Gesundheitszustand erfuhren, las ich ein Buch von Christopher de Vinck. "Die Kraft des Kraftlosen", in dem er beschreibt, was er von seinem Bruder Oliver gelernt hat. Oliver ist schwer geistig behindert. Es interessierte mich besonders, da unsere Tochter Mandy ebenfalls schwer behindert war, unfähig auf ihre Umwelt einzugehen. Drei Monate nach der Geburt und dem Tode Tobys, trat Mandy ebenfalls in die Ewigkeit ein. Gerade zwei Wochen vor ihrem zweiten Geburtstag. Ein Punkt, der de Vinck hervorhebte, half mir besonders mit meinen Fragen an Gott nach dem Tode Tobys.

Eine der grössten Entdeckungen, die ein Kind oder ein Erwachsener machen kann, schrieb de Vinck, ist, das jedes Ding ein Innenleben hat. Zuhause schneiden wir äpfel in zwei, um die Kernen im Inneren zu entdecken. Wir knacken Nussschalen, um die Nuss im Inneren zu sehen. Mit billigen Spielzeugstethoskopen versuchen wir unsere Herztöne in der Brust zu hören. Wir können nicht immer erkennen, was im Inneren ist, wenn wir nur das äussere sehen können.

Die Bibel sagt uns: "Für die Menschen ist wichtig, was sie mit den Augen wahrnehmen können; ich dagegen schaue jedem Menschen ins Herz." 1. Samuel 16.7. Man lehrt uns, die Menschen nach ihren Kleidern und ihrem Erscheinen zu beurteilen. Politische Kampagnen werden von Journalisten, Fernsehdirektoren und Meinungsforschern beeinflusst. Unsere Erziehungsmethoden stützen auf dem "politisch Korrekten". Ohne Unterbruch werden wir dazu verführt, zu glauben, dass nur unser äusseres Erscheinungsbild wichtig ist. Wir ignorieren das Innere, das Herz, den Geist.

Jedes meiner Kinder hat auch ein Innenleben. Bei meinen zwei grossen Töchtern kann ich manchmal einen Blick hineinwerfen. Bei Mandy war die Scheibe milchig. Bei Toby hatten wir nie eine Gelegenheit hineinzusehen.

Doch Mandy und Toby hatten beide ein Innenleben. Trotz des fehlerhaften äusseren, musste das Innere gehütet werden.

Nicht lange nach den Beerdigungen von Toby und Mandy, erzählte uns unsere siebenjährige Tochter Stacey von einer Stimme, die sie in der Nacht gehört hatte. "Mandy und Toby sind sehr beschäftigt. Sie bauen unser Haus und bewachen seinen Trohn." Da ich nicht wusste, wie ich einem Kind, das noch nie vorher so geredet hatte, antworten sollte, begann ich die Bibel zu lesen, mit einem nie dagewesenen Interesse für seine Passagen über die Beschreibungen der himmlischen Aktivitäten. Stimmten diese Worte mit dem Bibeltext überein? Unsere Familiengespäche drehten sich oft um den Himmel.

Wir erkannten, dass der Himmel ein Ort der Aktivität ist, und nicht nur der Musse und des Behagens. Gott bereitet eine Stadt für die Gläubigen vor (Hebräer 11.16), wo alles perfekt und ganz werden wird (Hebräer 11.40). Die Bibel beinhaltet viele Textstellen, wo von aktivem und intensivem Lobpreis die Rede ist.

Jesus sagte, dass es viele Häuser geben werde, und dass er uns einen Platz vorbereiten werde (Johannes 14). So können wir uns leicht vorstellen, dass ein Teil unserer himmlischen Tätigkeiten sein wird, Häuser für die vorzubereiten, die später kommen werden.

Ich muss zugeben, das mich der Satz "den Thron bewachen" am neugierigsten gemacht hatte. War dies eine Ehrengarde? Eine zeremonielle Versammlung von Kindern (die Jesus ja aufgefordert hatte zu ihm zu kommen, als er auf der Erde war)? Oder vielleicht Ehrenplätze, an die Jesus gedacht hatte, als er sagte "die Letzten werden die Ersten sein". Ich kann mir niemand "letzteren" vorstellen als Mandy und Toby.

Aber was denken, wenn diese Throngarde keine Zeremonie sondern eine Tatsache ist? Wir wissen, dass die Cherubim himmlische Wesen sind, deren Aufgabe diese ist. Daniel 10 beschreibt den Engel Michael im Konflikt mit einem spirituell abgefallenen Wesen. Epheser 6.12 beschreibt den Kampf "gegen die spirituellen Kräfte des Bösen im Himmelreich". Könnte es sein, dass unter diesen spirituellen Soldaten in diesem Konflikt einer Toby heisst ? Die Offenbarung erzählt uns von Kämpfen von himmlischen Armeen (Offb. 19.19). Könnte es sein, dass Toby mit einer unzählbaren Menge anderer Personen unter uns dient, inmitten der himmlischen Wesen in diesem letzten Kampf?

All dies sind natürlich nur Vermutungen. Aber was sicher ist, ist dass der Himmel ein Ort der aktiven Arbeit ist. Auch nach dem Endkampf geht unsere Verantwortung weiter.

Die Vision des Johannes der Ewigkeit legt uns nahe, was wir Heiligen erwarten können: "Denn der Thron Gottes und des Lammes steht in ihr (der Stadt), und alle, die dort wohnen, werden Gott dienen. Sie werden Gott sehen, wie er wirklich ist, und seinen Namen werden sie auf ihrer Stirn tragen. ... und sie werden immer und ewig mit ihm herrschen." Offenbarung 22.3-5.

Ich weiss nicht genau, wie wir ihm dienen werden, weder wie wir ihm beim Regieren helfen werden. Aber diese Aufgaben scheinen wichtiger zu sein, als die meisten der Karrieren, die wir hier auf der Erde machen. Könnte es also sein, dass ich in dem Moment wo ich den bedeutungsvollsten Dienst meines Lebens beginne, entdecke, dass ich genau dafür geschaffen wurde? Vielleicht finde ich dann heraus, dass ich nicht für das geschaffen wurde, was ich auf Erden geleistet habe, sondern für die Rolle, die ich im Himmel erfüllen werde.

Wieso schuf Gott ein Kind, das nur zwei Minuten leben durfte? Er hat es nicht getan. Er hat Mandy nicht für zwei Jahre geschaffen. Er hat mich nicht für 40 Jahre (oder wie gross die Jahre, die ich noch leben darf, auch sein werden) geschaffen.

Gott hat Toby für die Ewigkeit geschaffen. Er hat jeden unter uns für die Ewigkeit geschaffen, wo wir vielleicht überrascht sein werden unsere wahre Berufung zu entdecken, die immer ausserhalb unserer Reichweite schien.

Marshall Shelley

 

Aus dem Amerikanischen übersetzt mit Erlaubnis der Anencephaly Support Foundation

 

 

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 27.02.2019